Schlagwort: Selbstoptimierung

  • Dauerstress

    Dauerstress

    Dauerstress treibt viele Krankheiten an. Besonders hervorzuheben ist seine Rolle als Hauptursache chronischer Entzündungen, die wiederum viele Zivilisationskrankheiten und auch das Altern selbst begünstigen.

    Was verursacht bei uns Menschen Dauerstress:

    • Sinnentfremdete Arbeit, die in unsere Freizeit, Auszeit und Lebenszeit eindringt.
    • Verlust unserer Rhythmen, die zyklische Regeneration ermöglichen: Arbeit vs. Lebenszeit, Kontakt vs. Rückzug, Spannung vs. Entspannung, Tag vs. Nacht, Essen vs. Essenspausen, Sitzen vs. Bewegung.
    • Falsche Glücksziele: zu viel Konsum, der zu mehr Arbeit und weniger Lebenszeit führt (Miswanting).
    • Zu viel Zeit in Social Media, die unglückliche Vergleiche und Popularitätswettbewerbe fördert.
    • Übermässiges Optimieren und Selbstkontrolle, einschliesslich Ernährung oder Sport.
    • Zu wenig Entspannung.
    • Toxische „Freunde“ mit der „dunklen Triade“.
    • Einsamkeit.
    • Zu wenig Bewegung, die nicht auf Optimierung abzielt.
    • Dauerlärm,…

    Neuroinflammation und Chronischer Schmerz durch Dauerstress und Schlafstörungen

    Dass lang anhaltender psychosozialer Stress zu Schmerzerkrankungen  führen kann, wurde in den letzten Jahren gut belegt. Eine wesentliche  Rolle spielen auch hier neuroinflammatorische Prozesse, also entzündliche  Vorgänge in unserem Nervensystem. Diese führen zusätzlich auch zu Schlafstörungen (Insomnie), welche wiederum im Teufelskreislauf das Schmerzerleben noch  weiter verschlechtern. Beide Faktoren (chronischer Stress und Insomnie)  und ihre Folge, die Neuroinflammation ist auch bedeutsam beim  Fibromyalgie-Syndrom. Man spricht denn heute auch bei der  Fibromyalgie von einer generalisierten, Stress assoziierten,  neuroinflammatorisch mit bedingten Hypersensibilitätserkrankung.

    Es existiert eine klare Interaktion zwischen unserem Stoffwechsel im Dauerstress und dem Immunsystem (Immuno-Metabolismus). Steroidhormone (Adrenalin, Kortisol) werden bei Stress ausgeschüttet (auch bereits bei einer starken körperlichen Belastung, sprich Leistungssport) sind potente Immunsuppressoren, führen also zu einer Drosselung (bei akuten Belastungen günstig) oder Fehlfunktion (bei langzeitiger Ausschüttung). Fieber führt zu einer tiefen Veränderung im Metabolismus. Als exemplarisches Beispiel ist die Insulinresistenz und der Insulinsekretionsdefekt beim Diabetes in wesentlichen Aspekten eine pathologische Reaktion des Immunsystems – auch die wichtigsten Komplikationen des Diabetes: Herz-Kreislauf, Nieren- und Augen-Krankheiten.

    Auch die Zusammensetzung unserer Darmflora spielt in diesem Zusammenhang wahrscheinlich eine sehr grosse Rolle (Beispiel Diabetes: bei der Entstehung der Insulinresistenz).

    Dauerstress erhöht dauerhaft das Cortisol

    Bei Stress schüttet die Nebenniere Cortisol, Adrenalin und andere Hormone aus. Adrenalin wirkt schnell: Es verursacht Herzrasen und feuchte Hände, was unangenehm ist, aber nach wenigen Minuten vergeht und dem Körper nicht schadet. Cortisol hingegen wird erst nach zwanzig bis dreissig Minuten freigesetzt. Man spürt es nicht direkt. Es erhöht den Blutzuckerspiegel, versorgt das Gehirn mit Energie, stoppt die Verdauung und drosselt das Immunsystem, um alle Kräfte auf die Stressbewältigung zu konzentrieren. Die Wirkung von Cortisol kann Stunden anhalten. Bleibt der Stress, bleibt auch der Cortisolspiegel hoch.

    Zahlreiche Studien zeigen: Menschen mit hohem Selbstwertgefühl und Extrovertierte gewöhnen sich an stressige Momente. Ängstliche Personen hingegen schütten bei jedem stressigen Vorfall mehr Cortisol aus. Der Feuermelder wird bildlich gesehen sensibler auf Rauch.

    Forscher fanden heraus, dass Menschen, die schwierige Situationen als Herausforderung sehen, weniger Cortisol ausschütten als jene, die sie als Bedrohung empfinden. Man kann lernen, Herausforderungen statt Bedrohungen zu sehen.

    Vor allem zeigen die Studien auch, dass Stress oft mit sozialen Erwartungen zusammenhängt. Er ist teilweise ein gesellschaftliches Konstrukt. Menschen empfinden Stress, wenn sie glauben, eine Aufgabe nicht zu meistern und dafür schlecht beurteilt zu werden. Dann steigt der Cortisolspiegel.

    Stress hat auch sein Gutes

    Stress kann kurzfristig nützlich sein. Er aktiviert und fokussiert uns, ähnlich wie eine Übung im Flugsimulator. Evolutionär diente die Stressreaktion dem Kampf oder der Flucht. Sie half dem Menschen, in Gefahrensituationen zu überleben, indem sie alle Kräfte mobilisierte. Der Steinzeitmensch rannte vor Raubtieren davon. Der Mensch des 21. Jahrhunderts evakuiert ein Flugzeug oder beendet eine Kundenpräsentation, beides fühlt sich oft gleich wichtig an.

    Nach kurzer Zeit entkam der Steinzeitmensch dem Raubtier (oder wurde gefressen), die Evakuierungsübung endet, die Präsentation ist fertig. Dann baut der Körper das Cortisol ab.

    Problematisch wird es, wenn der Stress anhält. Das geschieht, wenn eine Stresssituation die nächste jagt oder Gedanken kreisen: War ich gut genug? Werde ich es bleiben? Dann kann der Körper nicht regenerieren. Bei einem hohen Cortisolspiegel kann der Mensch in akuten Stresssituationen kein weiteres Cortisol ausschütten und bewältigt zusätzlichen Stress schlecht. So entwickeln chronisch Gestresste eine biologische Dünnhäutigkeit: Sie reagieren empfindlich auf den kleinsten Stress, wie ein Feuermelder, der zu sensibel eingestellt ist und sofort Alarm schlägt.

    Auch zuwenig Cortisol kann krank machen

    Durch die Messung der Cortisol-Einlagerung im Haar weiss man, dass Herzinfarkt-Patienten schon vor dem lebensbedrohlichen oder sogar tödlichen Ereignis einen besonders hohen Cortisolspiegel hatten. Burn-out-Patienten wiederum haben einen sehr niedrigen Cortisolspiegel. Bei ihnen ist der Feuermelder defekt und meldet sich kaum mehr. Von der Hyper-Cortisolproduktion sind die Burn-out-Patienten in die Hypo-Cortisolproduktion gerutscht. Die Ausgebrannten, auch das kann man an ihren Haaren sehen, produzieren viel zu wenig Cortisol.

    Dauerstress herrscht überall, wo das Kohärenzgefühl fehlt

    Mangelndes Kohärenzgefühl (Zusammenhang, Stimmigkeit) ist das Gefühl des Ausgeliefertseins ohne Sinnhaftigkeit, Handhabbarkeit und Verstehbarkeit – auch bei Krankheitssymptomen. Vertrauen in sich und seine Selbstheilungskräfte, in die Gesellschaft, Freundinnen und die Therapeuten spielt eine sehr grosse Rolle – und natürlich Abwesenheit von Krieg, Klimasorgen, Hunger, schwere Armut.

    Unser Leben ist immer irgendwie „stressvoll“. Stress ist nicht zu vermeiden. Entscheidend aber ist, ob ich dem stressvollen Ereignis, etwa einer Prüfung, Sinn verleihen kann, ob mir klar ist, dass diese Prüfung notwendig ist (zum Beispiel, um mir bewusst zu machen, ob ich genügend Kompetenz besitze, um dann in einem bestimmten Bereich zu arbeiten), ob ich die Prüfungsfragen verstehe (Verstehbarkeit), ob ich mit der Prüfungssituation zurecht komme (pünktlich sein, nicht panisch sein, mir genügend Zeit für jede Frage nehme, usw.). Das wäre die Handhabbarkeit. All dies fällt auch unter den Begriff „Selbstwirksamkeit“. Weiterlesen >>> Salutogenese.

    Dauerstress schwächt Kohärenz und Lebensmut

    Menschen, die ihr Leben als kohärent – also als sinnvoll, versteh- und bewältigbar – empfinden, sind gut gerüstet gegen Krankheiten. Doch auch körperliche Einflüsse bestimmen das Kohärenzgefühl: Gerät der Organismus dauerhaft aus dem Gleichgewicht, etwa durch ständigen Stress, sinkt langfristig das Kohärenzgefühl; die Betroffenen empfinden ihren Alltag zunehmend als sinnentleerte Zumutung.

    Ein schwedisches Forschungsteam wies auf diesen Zusammenhang hin. Es wurden medizinische Labordaten von 369 gesunden Frauen analysiert, die im Alter von 43 Jahren einen ärztlichen Routinecheck absolviert hatten. Sie zählten, wie viele Kennwerte (etwa Blutdruck, Blutfette, Waist-Hip-Ratio) im riskanten oberen Viertel lagen. Die individuelle Summe dieser Risikowerte bildete ein Mass für die sogenannte “allostatische Last”. Die Allostase ist der Prozess, durch den der Körper in Anforderungssituationen (also im Stress) durch körperliche und psychologische Verhaltensänderungen die Stabilität aufrechterhält.

    Sechs Jahre später kontaktierten die Forscher die Frauen erneut und liessen sie einen Fragebogen zu ihrem Kohärenzempfinden ausfüllen. Sie fragten, inwieweit die Frauen “die Dinge, die ihnen alltäglich widerfahren” im Grossen und Ganzen verstehbar fanden, ob Probleme sie hoffnungslos stimmten oder zur Suche nach Lösungen anspornten und ob sie den Alltag als “eine Quelle persönlicher Befriedigung” empfanden. Das Ergebnis: Je höher die “allostatische Last” einer Teilnehmerin sechs Jahre zuvor war, desto schlechter stand es nun um ihren Sinn für Kohärenz. Übrigens: Auch Rauchen, geringe Bildung und ein (unglückliches) Singleleben schadeten der Kohärenz.

    Die “allostatische Last” misst, wie stark das Gleichgewicht des Körpers gestört ist – vor allem durch wiederholten und chronischen Stress. Stress ist eine natürliche Anpassungsreaktion des Körpers auf Anforderungen; er ist unschädlich, wenn der gestresste Organismus anschliessend ausreichend Zeit zur Erholung findet. Ist dies nicht gewährleistet, etwa weil der Stress über Tage und Wochen anhält, findet der Körper nicht vollständig zum Gleichgewicht zurück: Allostatische Last häuft sich an.

    Dieses körperliche Ungleichgewicht wirkt sich auch seelisch aus und schmälert das Kohärenzempfinden und damit den Lebensmut – ein Teufelskreis, fürchten die schwedischen Forscher: “Ein schwaches Kohärenzempfinden reduziert die Fähigkeit eines Menschen, seinen Alltag erfolgreich zu bewältigen, was wiederum Spannung und Stress verstärkt, die körperlichen Ressourcen verschleisst und das Gesundheitsrisiko erhöht.” Andererseits gilt wohl auch umgekehrt: Wer sein Leben als kohärent und sinnhaft empfindet, baut Stress rascher ab und schont seine körperlichen Ressourcen.

    Dauerstress ist Atemlosigkeit, Spannung, Enge. Die neuen “Simultanten” unserer Beschleunigungs-Gesellschaft (“Zeit ist Geld!”) leben im Dauerstress von simultanem E-Mailen, Simsen, Essen, Telefonieren, das Kind versorgen, sich fortbewegen…!

    Stress ist übrigens auch “ansteckend”! Man sollte sich von gestressten Menschen fernhalten, um selbst zur Ruhe zu kommen.

    Tragödie oder nur Unannehmlichkeit?

    Forscher fanden heraus, dass Menschen, die schwierige Situationen als Herausforderung sehen, weniger Cortisol ausschütten als jene, die sie als Bedrohung empfinden. Man kann lernen, Herausforderungen statt Bedrohungen zu sehen.

    Wenn Sie das nächste Mal gestresst sind, fragen Sie sich: Ist das eine Tragödie oder nur eine Unannehmlichkeit? Laut Harvard-Professorin für Psychologie, Dr. Ellen Langer kann diese Frage Sie beruhigen. Sie mindert die physiologischen Schäden durch Stress und hilft Ihnen, das Problem besser zu bewältigen. Manchmal sind Ihre Probleme echte Tragödien. Dann hilft es, sich nicht über Kleinigkeiten aufzuregen und Ihre Ressourcen für den Ernstfall zu schonen.

    Gereizter Dauerspannungstonus

    Ob sich ein starkes oder ein schwaches Kohärenzgefühl herausbildet, hängt auch von den gesellschaftlichen Gegebenheiten ab, insbesondere von der Verfügbarkeit generalisierter Widerstandsressourcen, die ein starkes Kohärenzgefühl entstehen lassen.

    In dieser Hinsicht beobachte ich bei meinen Patient:innen und in der Gesellschaft eine ständige Gereiztheit, begleitet von der Angst, Privilegien zu verlieren. Die Menschen stehen unter Strom und können die Spannung nicht abbauen. Beziehungen werden unruhiger, private Konflikte eskalieren, und zur Sorge, den Anforderungen nicht zu genügen, gesellt sich die Angst vor äusseren Gefahren: Kriege, Klima.

    Steigt deshalb also die Zahl psychischer Störungen? Ich halte wenig von einer inflationären Pathologisierung und dem ständigen Absenken der Krankheitslevel. Das Angebot an medizinischer Hilfe hat eine wachsende Nachfrage erzeugt, die sich prächtig rentiert. Diese Nachfrage führt zu einem Krankheitsgewinn in jedem Sinne. Wir neigen zunehmend dazu, unser Leiden in Diagnosen zu verpacken und behandeln zu lassen. Doch ist die Nervosität nicht eine angemessene Reaktion auf die Welt, wie sie ist? Und so auch das Leiden?

    Manchmal verspüre ich den unprofessionellen Impuls, den Menschen zu sagen: „Denk nicht so kompliziert, mach einfach etwas Schönes. “ Resilienz lässt sich jederzeit erlernen – durch Musik oder durch die Wiederbelebung sozialer Kontakte, etwa beim Zusammensitzen mit verschiedenen Menschen. Warum nicht auch den Vagusnerv aktivieren?

    Das wäre einmal etwas Neues: in aller Ruhe nervös zu sein. Diese Gesellschaft ist nervös, und das ist nicht schlimm, sondern realitätstüchtig – sogar klug. Katastrophenrealismus rechtfertigt keine Krankschreibung. Im besten Fall zeigt sich Nervosität als lebhaftes Wechselspiel von Sympathikus und Parasympathikus. Gerade die Nervosität signalisiert Offenheit, Wachheit und Aufnahmebereitschaft – im Gegensatz zur Verdrängung der Wirklichkeit und zur Leugnung der komplizierten Tatsachen.

    Diese Leugnung breitet sich aus und ist ein guter Grund, beunruhigt zu sein. Eine Nervosität, die in die Leugnung von Tatsachen umschlägt, ist problematisch. Doch wer in aller Ruhe nervös ist, kann gelassen sagen: „Nerv mich ruhig, denn nervös bin ich sowieso – ich bin gespannt, was jetzt kommt. Auf das Unvorhergesehene. “

    Ein Ausweg aus diesem Dauerstress kann sein, dass wir zwar unsere Erlebnisse und unser Schicksal, einschliesslich Krankheiten, nicht wählen können, aber wir können entscheiden, wie wir sie wahrnehmen und beurteilen. Diese Einstellung, unser Selbsturteil, unsere Gedanken und Gefühle über das, was wir erleben, unterliegt unserem freien Willen. „Nicht was wir erleben, sondern wie wir wahrnehmen, was wir erleben, macht unser Schicksal aus.“

    Toxische „Freund:innen“ mit der „dunklen Triade“ sind krankmachend

    Unter Menschen zu sein, macht nicht automatisch glücklich. Eine Studie der University of California von 2014 zeigt, dass zwischenmenschlicher Stress und soziale Ausgrenzung Depressionen und körperliche Leiden wie chronische Schmerzen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Fettleibigkeit verursachen können.

    Es kommt darauf an, sich mit den richtigen Menschen zu umgeben. Vielleicht lohnt sich eine soziale Entgiftungskur, bei der man sein Umfeld – Freunde, Chefs, Ehepartner – auf „soziale Raubtiere“ prüft, die rücksichtslos durchs Leben gehen und viel Energie kosten. Typisch dafür sind Menschen mit den Charakterzügen der „dunklen Triade“. Psychologen bezeichnen damit Narzissmus, Machiavellismus und Psychopathie. Ein wenig davon steckt in vielen von uns, und in kleinen Dosen können diese Eigenschaften im Job nützlich sein. Solche Menschen sind oft durchsetzungsstark und charmant, sie sind Macher. Gleichzeitig können sie impulsiv und manipulierend sein, selbstherrlich und eitel. Sie zeigen weder Reue noch Einfühlungsvermögen und biegen sich die Wahrheit zurecht. Man sollte sich von ihnen fernhalten und sich nicht in sie verlieben. Menschen der dunklen Triade findet man eher in künstlerischen, unternehmerischen und sozialen Berufen. Wirklich glücklich sind sie selten.

    Am besten wählt man die gleiche Strategie wie überall im Leben: auf die hellen Seiten fokussieren. Sprich: nicht die Psychopathen meiden, sondern die freundlichen Menschen suchen. Der Kognitionswissenschaftler Scott Barry Kaufman skizziert eine „helle Triade“ von Tugenden: Humanismus, Glaube an die Menschheit und Kantianismus (andere Menschen nicht instrumentalisieren, sondern sich um ihrer selbst willen mit ihnen abgeben). Kaufmans Bevölkerungsstichprobe zeigt, dass 50 Prozent der Menschen der hellen Triade angehören (gegenüber 7 Prozent der dunklen Triade).

    Dauerstress durch Social Media bei jungen Frauen

    Psychologen der Uni San Diego unter der Leitung von Jean Twenge veröffentlichten ein neues Paper über Depressionen und Mental Health Issues unter Jugendlichen, in dem sie einen starken Anstieg seit 2011 feststellen und zwar vor allem unter Millennials, also den nach 1980 geborenen. Gleichzeitig stellten die Forscher einen signifikanten Anstieg von Stress und Selbstmordgedanken unter Jugendlichen fest.

    Die Zunahme von Mental Health Issues ist bei Mädchen deutlich stärker als bei Jungs. Der Grund dafür scheint der Popularitätswettbewerb zu sein, der unter Mädchen gnadenloser und härter ist, gerade im Hinblick auf soziale Interaktion, was sich in diesen Zahlen deutlich abbildet. Knaben können im Netz ihre Kompetitionsbereitschaft im Gamen ausleben, was sich psychologisch kaum negativ auswirkt.

    Zusätzlich sind reichere Einkommensschichten eher von Stress und Selbstmordgedanken geplagt, die unteren Einkommensschichten leiden eher unter Depressionen. Auch hier scheint vor allem der Wettbewerb um Sichtbarkeit und Popularität relevant, der unter reicheren Menschen ausgeprägter ist.

    Der Anstieg verläuft praktisch parallel zum Siegeszug von Social Media und die Psychologen halten klar das Netz, Smartphones und Soziale Medien für die Ursache dieses Anstiegs.

    Jean Twenge untersuchte Umfrageergebnisse von über 200.000 Jugendlichen im Alter von 12 bis 17 Jahren von 2005 bis 2017 und von fast 400.000 Erwachsenen im Alter von 18 Jahren und darüber von 2008 bis 2017. Die Zahl der Jugendlichen, die Symptome angaben, die auf eine schwere Depression hinweisen, stieg um 52 Prozent (von 8,7 auf 13,2 Prozent), der Anstieg unter jungen Erwachsenen (18-25 Jahre) betrug sogar 63 Prozent. Bei Älteren stiegen Depressionen zwischen 2005 und 2017 unter 26-29-Jährigen um 29 Prozent, in den anderen Altersgruppen wurden sie weniger.

    (Quelle: Jim Sliwa, „Mental Health Issues Increased Significantly in Young Adults Over Last Decad“; American Psychological Association , 04/2019)

    Dauerstress und Depression

    Auf diesen starken Zusammenhang kamen Forscher nun wieder bei der Enträtselung der antidepressiven Wirkung der psychedelisch wirkenden Drogen, wie Ketamin. Diese Droge verbessert die Übertragung von Informationen zwischen den Hirnzellen, stellten die Forscher fest. Sie lässt sogar neue Verbindungsstellen, Synapsen, entstehen. Herkömmliche Antidepressiva tun das auf Umwegen auch. »Plastizität« nennen Fachleute dieses Phänomen. Es ist entscheidend für das Lernen. Eine neue Hypothese war geboren: Depressionen entstünden, wenn diese Plastizität unseres Hirns sinke. Erhöhe man sie, lasse sich die Krankheit lindern.

    Für diese Vermutung spricht einiges, denn Stress senkt die Plastizität. Und Stress entsteht durch akute oder chronische Überlastungen genauso wie durch frühe Traumata – alles bekannte Ursachen von Depressionen. Wenn Menschen aber nicht mehr so gut Neues lernen können, bleiben sie leichter in Grübelschleifen hängen, ziehen sich zurück. Die Verbindungen (Synapsen) im Gehirn leiden, die Verbindungen im Leben ebenfalls.

    Eine weitere Erklärung für den Zusammenhang von Dauerstress und Depression führt über unseren Darm und sein Mikrobiom: Der Stress lässt unsere Darmflora massiv verarmen, was wiederum zur Depression führen kann.

    30 bis 40 Prozent der Menschen essen bei Stress mehr energiereiche Lebensmittel

    Emotional Esser greifen zu Nahrung, um Traurigkeit oder Frust zu bewältigen. Studien zeigen, dass 30 bis 40 Prozent der Menschen bei Stress mehr energiereiche Lebensmittel essen. Schon kleine Stressfaktoren – eine Arbeitsdeadline oder ein Streit mit der Partnerin – führen dazu, dass Menschen vermehrt zu ungesunden Snacks wie Schokolade oder Chips greifen. Gleichzeitig vernachlässigen sie Hauptmahlzeiten und damit auch Gemüse. 

    Menschen, die ihr Essverhalten stark regulieren – etwa durch Diäten –, sind laut diesen Studien besonders anfällig für Stressessen. Das Einschränken von Nahrung erfordert viel Selbstkontrolle. Bricht diese in Stresssituationen zusammen, folgt oft eine Gegenreaktion. Auch Frauen und Menschen mit höherem BMI sind stärker betroffen, wobei unklar bleibt, ob dies physiologische oder soziale Ursachen hat.

    Dauerstress durch Selbstoptimierung

    In den letzten Jahren zeigt sich ein seltsames Phänomen: Ein neuer Typ von Leidenden tritt auf. Menschen, die ein achtsames, entschleunigtes Leben führen wollen und dabei alles, wirklich alles richtig machen möchten. Sie schreiben Tagebuch, notieren Gedanken und Ideen, ernähren sich bewusst, gehen zum Yoga – aber nicht aus Freude, sondern weil sie glauben, es tun zu müssen. Und dann sitzen sie hier, bei mir in der Sprechstunde, weil das alles nicht funktioniert.

    Natürlich ist Yoga gut. Doch wer es nur macht, um es abzuhaken, schafft sich einen neuen Zwang. Dann wird das Anti-Stress-Programm selbst zum Stress.

    Es scheint, als habe die Gesellschaft ein wichtiges Gefühl verloren: die Nüchternheit, Arbeit als Tauschgeschäft zu begreifen. Meine Anstrengung, meine Ideen, mein Wissen gegen Geld. Heute reicht das nicht mehr. Arbeit soll Sinn stiften, so viel Sinn, dass viele kaum ertragen, wenn ein Job einfach nur ein Job ist.

    Gleichzeitig fällt es den Menschen schwer, Unzufriedenheit auszuhalten. Doch niemand ist immer glücklich, niemand immer entspannt. Ein Leben ohne Stress, ohne Cortisol, wäre ein Leben ohne Herausforderungen, ohne Lernen – ein Leben, in dem man morgens nicht einmal aus dem Bett käme.

    Zu viel Cortisol führt in die Erschöpfung, gar keins ins Nichts. Wie also findet man die Balance?

    Die Antwort ist unspektakulär, aber wirksam: regelmässig und gut essen, sich bewegen, regelmässige Waldspaziergänge, ausreichend schlafen. Und dann gibt es noch ein Mittel, vielleicht das beste. Es ist gut erforscht, von vielen Studien belegt: Zuwendung.

    Ein empathischer Partner, ein guter Freund, jemand, der zuhört und berührt – diese Nähe wirkt wie eine Rüstung gegen Stress. Psychologen nennen es „Social Support“. Es kostet nichts, ist aber unbezahlbar.

    Energetische Menschen

    Manche stemmen mühelos eine 40-Stunden-Woche, Haushalt, Sport und Selbstverwirklichung. Andere schaffen es gerade so aufs Sofa. Doch: Eine High-Energy-Person kann man werden.
    (Simone Kamhuber, ZEIT am Wochenende, 01/2025)

    Man könnte meinen, manche Menschen hätten mehr als 24 Stunden am Tag. Chefinnen, die von früh bis spät arbeiten, am Wochenende Gletscher erklimmen und in der Mittagspause für den Marathon trainieren. Eltern, die neben dem Job drei Kinder grossziehen, den Haushalt schmeissen und nebenbei Oboe lernen oder in der Kreisliga Badminton spielen. Andere hingegen greifen nach Feierabend nur noch zur Fernbedienung. Woher nehmen manche bloss ihre Energie? Und: Kann man selbst so eine Power-Person werden, wenn man es vom Sofa hochschafft?

    Energie – ein abstrakter Begriff, keine greifbare Grösse. Sie beschreibt die Fähigkeit, Leistung zu erbringen. Schon das blosse Überleben kostet Kraft: Bis zu 75 Prozent der Körperenergie fliessen in lebenswichtige Funktionen. Umso erstaunlicher, wie viel manche aus den übrigen 25 Prozent herausholen. Und tatsächlich: Menschen unterscheiden sich darin, wie effizient sie Energie aufnehmen, verarbeiten und wie schnell sie ermüden (Plos One: Jiang et al., 2018, PDF). Doch das bedeutet nicht: einmal Couch-Potato, immer Couch-Potato. Es gibt Faktoren, die das Energielevel beeinflussen – und einige davon hat man selbst in der Hand.

    Mitochondrien: Die Kraftwerke der Zellen

    Essen liefert Energie – das ist bekannt. Doch der Körper muss diese Energie erst umwandeln. Die entscheidenden Prozesse laufen in den Mitochondrien, den Kraftwerken der Zellen. Sie verwandeln Triglyceride und Kreatinphosphat aus der Nahrung in Adenosintriphosphat (ATP), den Treibstoff des Körpers. Täglich verbraucht ein Mensch davon etwa so viel wie sein Körpergewicht.

    Damit die Energiespeicher gefüllt bleiben, braucht der Körper Fette, Kohlenhydrate und Proteine – Letztere sind die Bausteine der Mitochondrien. Nüsse, Tofu oder Eier liefern das nötige Material zur Regeneration. Zucker gibt zwar einen schnellen Energieschub, verpufft aber rasch. Zuckerarmes, sättigendes Essen hält den Energiespiegel länger stabil.

    Manche Menschen produzieren mehr Energie als andere. Profisportler haben in ihren Muskelzellen bis zu doppelt so viele Mitochondrien wie Bewegungsmuffel. Regelmässige Bewegung verbessert nicht nur die Funktion der Mitochondrien, sondern erhöht auch ihre Anzahl.

    Bewegung als Energiequelle

    Nach der Ernährung ist Bewegung der zweite Schlüssel zum Energiehaushalt. Menschen mit hohem Arbeitspensum, etwa Führungskräfte, treiben oft viel Sport. Wer geistig viel leistet, braucht körperliche Aktivität als Ausgleich. Menschen, die sich regelmässig bewegen, verfügen über grössere Energiereserven und wirken oft, als fiele ihnen alles leicht.

    Zudem hebt Bewegung die Stimmung, baut Stresshormone ab, kurbelt den Fettstoffwechsel und die Sauerstoffaufnahme an. Doch Vorsicht: Zwischen Auslastung und Überlastung liegt ein schmaler Grat. Eine Studie der Universität Jaén zeigte, dass Sport bei moderatem Stress Energie spendet, bei starkem Stress jedoch auszehrt (Current Psychology: Cortés-Denia et al., 2023).
    Mässig, regelmässig ist auch hier der gute Mix.

    Schlaf: Die Basis für Energie

    Um energiegeladen in den Tag zu starten, braucht der Körper Schlaf. Doch wir leben in einer Ära der „globalen Fatigue“. Eine Metastudie von 2022, die 91 Studien auswertete, ergab: Jeder fünfte Erwachsene fühlte sich schon einmal bis zu sechs Monate lang dauerhaft erschöpft. Das Problem ist weniger die Belastung als die fehlende Regeneration. Neben Bewegungsmangel und falscher Ernährung ist Schlafmangel eine Hauptursache.

    Im Schlaf stärkt der Körper das Immunsystem, repariert Zellen und Muskeln. Schlafentzug stört diese Prozesse und erhöht das Risiko für Krankheiten wie Krebs oder Stoffwechselstörungen. Die Studie „Mitochondrien brauchen ihren Schlaf“ (2023) belegt: Ohne Schlaf geraten die Reparaturmechanismen der Zellen ins Stocken.

    Resilienz: Der Schlüssel zur Energie

    Ein stabiles Energielevel entsteht aus der Kombination von Genetik, Lernerfahrungen und Umwelt. Mentale Stärke, körperliche Gesundheit und ein stabiles soziales Netzwerk spielen dabei eine zentrale Rolle.

    Resilienz – die Fähigkeit, psychisch gesund zu bleiben und sich nach Rückschlägen zu erholen – hilft, langfristig vital zu bleiben. Zwillingsstudien zeigen, dass Resilienz zu 30 bis 50 Prozent genetisch bedingt ist. Doch sie entwickelt sich vor allem durch die aktive Bewältigung von Herausforderungen. Resiliente Menschen setzen Prioritäten, ziehen Grenzen, nutzen Ressourcen gezielt und legen Pausen ein. Sie wissen, wie man mit Stress umgeht.

    Stress mindert die Vitalität, weil er die psychische Gesundheit belastet und zu Erschöpfung führt. Der Körper schüttet Cortisol aus, was das Einschlafen erschwert. Eine Studie von 2022 mit 16.000 chinesischen Beamtinnen und Beamten zeigte: Arbeitsstress oder Geldsorgen verdoppeln das Risiko für Erschöpfung. Zudem schädigt anhaltender Stress die Mitochondrien und schwächt das Immunsystem (Psychosomatic Medicine: Picard & McEwen, 2018).

    Grenzen erkennen und akzeptieren

    Doch nicht alle Leistungsmenschen haben unerschöpfliche Energie. Viele überfordern sich, halten den Schein aufrecht, bis der Körper streikt. Um dem Optimierungswahn zu entkommen, sollte man die eigenen Grenzen respektieren und das Beste aus dem Möglichen machen.

    Der Alltag lässt sich mit kleinen, realistischen Schritten gestalten. Bewusste Selbstfürsorge hilft, sich energiegeladener und zufriedener zu fühlen. Und manchmal ist ein Abend auf dem Sofa genauso wertvoll wie ein Lauf auf dem Laufband.

    Quellen:
    Self-rated recovery from work stress and allostatic load in women, J Psychosom Res. 2006 Aug;61(2):237-42
    Warum so nervös?, DIE ZEIT, 34/2024
    Simone Kamhuber, Energetische Menschen, ZEIT am Wochenende, 01/2025
    Stress, Spannung, nervös: den Parasympathikus stärken

    Foto von Foto von Kevin Ku auf Unsplash

    Letzte Aktualisierung durch Thomas Walser:
    14. Juni 2025

  • Burnout

    Burnout

    Psychisch-Physischer Erschöpfungszustand

    In meiner Hausarztpraxis habe ich den Begriff „Burnout“ selten verwendet. Er suggeriert oft, dass allein die Arbeit Menschen „ausbrennt“ und sie wenig dagegen tun können. Natürlich gibt es Arbeitsplätze, die Burnout begünstigen, und chronische Überlastung oder Dauerstress führen zweifellos dazu. Doch ebenso entscheidend sind die persönlichen Voraussetzungen, Ressourcen und Reaktionen. Auch unsere eigenen Eigenschaften tragen dazu bei, dass wir in diesen „psychisch-physischen Erschöpfungszustand“ geraten – so habe ich das Phänomen treffender beschrieben. Die Erschöpfung bleibt dabei das zentrale Symptom.

    Menschen brennen nicht aus, weil eine Aufgabe zu schwer oder eine Verantwortung zu gross ist. Sie brennen aus, wenn sie keinen Einfluss auf ihr Handeln haben, wenn sie sich ohnmächtig fühlen. Achtsamkeitsübungen und Entspannungstechniken helfen da oft wenig. Statt die Erschöpfung als individuelles Problem zu betrachten, sollten Betroffene das „Empörungspotential ihres Burnouts“ erkennen, wie Ursula Nuber es in Psychologie Heute (01/2016) nennt. Unser Körper wehrt sich gegen Überreglementierung, Ausbeutung und ständige Verfügbarkeit. Burnout ist daher auch eine Kompetenz. Wer ausbrennt, sollte das nicht als Schwäche oder Versagen sehen, nicht beschämt den Kopf senken und schuldbewusst versuchen, seine „Akkus“ wieder aufzuladen. Vielmehr kann er stolz auf sein Engagement sein – „müdstolz“, wie Peter Handke es nannte. Ein Müdstolzer erkennt seine Leistung an und hat kein Problem damit, sich und anderen einzugestehen: „Ich kann nicht allem gerecht werden!“

    Die Arbeitswelt macht krank

    Es wäre entlastend, wenn man sagen könnte: Logisch bin ich gerade in einer Krise, denn die Welt ist es auch. Ich glaube, es wäre allgemein besser, wenn es bei psychischen Problemen nicht immer nur den Impuls gäbe, «nach innen zu schauen» und das Individuum in die Pflicht zu nehmen. Im letzten Jahrhundert (zu Beginn und vor allem in den Dreissigjahren) war es „in“ – und man konnte es ruhig zeigen, dass man häufig einen „Nervenzusammenbruch“ hatte. Die Welt war zu stressig für das Individuum und mit diesem Zusammenbruch schuf man sich, durch die Gesellschaft allgemein legitimiert, eine Auszeit, in der man wieder zu Kräften kam.
    Wie wohltuend wäre auch heute wieder ein solches Narrativ. Eines, das psychische Probleme im Kontext der Zeit sieht und unterstreicht, wie schwierig es manchmal ist, nicht durchzudrehen. Eines, das Burnouts nicht nur kuriert, sondern auch fragt: Warum macht die Arbeitswelt krank? Eines, das Ängste nicht nur behandelt, sondern auch wissen will:
    Wie machen wir dieses Welt weniger schrecklich?

    Die Sinnlosigkeit der Arbeit

    Der Ausdruck Burnout verschleiert, dass die Erschöpfung kein quantitatives Problem ist, sondern auch mit der Sinnlosigkeit der Arbeit zu tun haben könnte, damit, nicht selbst über die Ziele der Arbeit bestimmen zu können, damit, gegen die eigenen Interessen oder moralischen Über­zeugungen handeln zu müssen, oder mit dem Gefühl, nichts bewirken zu können. Er verschleiert auch, dass die Erschöpfung, die inzwischen ja selbst (oder gerade?) in Aktivistinnen­kreisen ein zunehmendes Problem darstellen soll, weniger eine Folge der Arbeits­menge als eine Folge der nagenden Furcht ist, letztlich könnte alles für die Füchse gewesen sein.

    Was tun? Vielleicht könnten wir damit anfangen, wenigstens den Begriff Burnout fallen zu lassen. Denn wer sich selbst ein Burnout diagnostiziert, versteht sich, ohne es zu merken, als Dampf­maschine. Er spielt dabei den Mächtigen in die Hände, für die es weniger ermüdend ist, über Quantitäten zu streiten als über Inhalte, über Arbeits­mengen als über politische und soziale Konflikte.
    (der erschöpfte Daniel Strassberg in der Republik, 14.06.22)

    Arbeit kann dein Hirn vergiften

    Es hat sich in einer seriösen Studie gezeigt, dass sich im Laufe eines anstrengenden Bürotages etliche toxisch wirkende Abfallstoffe im Gehirn ansammeln, die dazu führen, dass am Ende des Tages das allseits bekannte Erschöpfungsgefühl einsetzt. Auch Entscheidungen, die am Ende des Arbeitstages getroffen werden, sind generell als schlechter zu bewerten als Entscheidungen, die in der ersten Tageshälfte getroffen werden. Hinzu kommt die immense Bedeutung der Ernährung im Laufe des Tages. So werden mit einem Gefühl der Sättigung bessere kognitive Entscheidungen getroffen, während ein Hungergefühl eher der Feinmotorik dient. Konterkariert wird die Qualität der Entscheidung aber wiederum durch die vorherige Arbeitsdauer. Am Ende des Arbeitstages werden eher Entscheidungen bevorzugt, die einen geringeren Aufwand nach sich zu ziehen scheinen.
    Die StudienautorInnen empfehlen mehr Pausen während eines Arbeitstages und eine Umstrukturierung der Aufgaben im Laufe dieser Arbeitstage, um den Einfluss der externen Faktoren positiver für sich zu nutzen.
    (Studie: Wiehler A, Branzoli F, Adanyeguh I, Mochel F, Pessiglione M. A neuro-metabolic account of why daylong cognitive work alters the control of economic decisions. Curr Biol. 2022 Aug 22;32(16):3564-3575.e5. doi: 10.1016/j.cub.2022.07.010. Epub 2022 Aug 11. PMID: 35961314. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/35961314/)

    Totalerschöpfung

    Burnout umfasst eine tiefe Identitätskrise, die oftmals ihren Ursprung in zu hohen Erwartungen an eine Situation hatte. Die letztendliche Totalerschöpfung ist das sozial akzeptierte Zeichen nach aussen, dass etwas nicht stimmt. Burnout ist allerdings mehr als Erschöpfung, die auch entstehen kann wenn man wegen Termindruck drei Wochen durcharbeitet oder fünf Freunden am Stück beim Umzug hilft. Burnout entsteht früher und geht tiefer. Wer selbst noch in der Lage ist, die Reissleine zu ziehen und aktiv Dinge zu tun, die einem gut tun, ist zum Glück noch ein Stück vom Burnout entfernt.

    Fabienne Riener hat in ihrem wunderbaren Text (hier) beschrieben, wie Burnout entsteht: Meistens eben nicht von drei Nachtschichten in einer Woche, sondern eher dann, wenn man lange auf ein Ziel hinarbeitet und regelmässig seine Grenzen überschreitet. Ein spannender Text, den alle lesen sollten, die öfter mal länger arbeiten.

    Chronischer Stresszustand (Dauer-Dysstress), viele Reize, grosse Anforderungen wirkt auf den Sympathikus, auf unsere katabole Seite des Vegetativen Nervensystem (via Cortisol vor allem) und kann in Verlust von Neuroplastizität des Hirns münden (Atrophie des Hippocampus, Schrumpfung der Hirnzellen)! Dies ist zwar schon reversibel (durch Entspannung, Bewegung,…), aber dennoch alarmierend.

    Vita activa vs. Vita contemplativa

    Die Vita activa beschreibt eine Lebensform, bei der praktische Arbeit und soziale Betätigung im Vordergrund stehen. Die Vita contemplativa hingegen ist dem Betrachten und der Kontemplation gewidmet. Die Menschen definieren sich heutzutage oft über ihre Vita activa, indem sie viel arbeiten und danach noch für einen Triathlon trainieren.
    Die Anerkennung für den Teil unseres Lebens, der der Vita contemplativa zugeordnet wird, fehlt oft, obwohl er genauso wichtig ist.
    Es ist auch Teil der Sinnfrage, die sich die Menschen stellen. Sie fragen sich nicht nur, was der Sinn ihrer Arbeit ist, sondern auch, was der Sinn ihres Lebens ist.
    Eine Möglichkeit, um mehr Vita contemplativa in den Alltag zu integrieren, ist pro Tag eine halbe Stunde in der Natur zu verbringen, zum Beispiel am See oder im Wald spazieren zu gehen. Der Wald ist zwar eine massive Reizüberflutung, aber er ist auch eine, die erdet. Ganz im Gegensatz zu einem iPad oder iPhone. Die Welt hier drin kann unser Gehirn nicht verstehen und mündet in einer Erschöpfung.

    Burnoutsymptome

    Das Standard-Messinstrument bei Burnout ist der Maslach Burnout Inventory, der 3 Dimensionen untersucht:
    Emotionale Erschöpfung, Depersonalisation und reduzierte persönliche Leistungsfähigkeit.

    Typische Burnout Symptome sind:

    • Konzentrationsprobleme, permanente Müdigkeit, Mattigkeit, Kraftlosigkeit und Erschöpfung – und dies alles nicht nur an einem besonders schlechten Arbeitstag, sondern oft.
    • Lustlosigkeit, Übellaunigkeit, Gereiztheit
    • Gefühle des Versagens, der Sinnlosigkeit, der Ineffektivität
    • Gefühl von Überforderung und Angst, den Anforderungen nicht mehr gewachsen zu sein
    • mangelndes Interesse am Beruf, Kunden/Patienten oder Aufgabenbereich, Gleichgültigkeit gegenüber Projekten, die man normalerweise spannend finden würde.
      Daraus resultierender Zynismus (bis Depersonalisierung)

    Körperliche Symptome können ähnlich wie bei der Depression sehr vielfältig auftreten:

    • Schlafstörungen
    • Kopfschmerzen
    • Verspannungen
    • Rückenschmerzen
    • unspezifische Schmerzen
    • erhöhtes Schmerzempfinden
    • veränderter Blutdruck
    • Engegefühle in Brustkorb und Hals, Atemnot
    • Libidoverlust
    • Zyklusstörungen bei der Frau
    • Suchtverhalten (zur „Eigentherapie“ der psychischen Symptome…)
    • Atypische Gewichtsveränderungen
    • Magen-Darm Beschwerden

    Stadien der Entstehung und begleitende Schlafstörungen

    • Stadium 1) STRESS: Einschlafstörungen
    • Stad. 2) BURNOUT: Ein- und Durchschlafstörungen
    • Stad. 3) FOLGEKRANKHEITEN – als Beispiel die Depression: Früherwachen

    Burnout und Depression

    Es ist umstritten, wo die Definition eines „Burnout“ beginnt und wo die einer „Depression“ aufhört. Überschneidungen sind gross – Unterscheidung nur partiell möglich. Die Prophylaxe beider Zustände ist ähnlich – die Therapie zum Teil und betrifft beim Burnout häufiger in Arbeitssituations-Verbesserungen (siehe weiter unten).
    Als Musterbeispiel soll die weltweite Situation der Landwirte stehen: In einer Umfrage von 2018 soll in Deutschland jeder vierte Bauer Burnout gefährdet sein. Studien zur psychischen Situation von Landwirten zeigen dabei, dass (in Kanada) jeder vierte Landwirt, sein Leben nicht lebenswert findet oder in den vergangenen 12 Monaten an Suizid gedacht hat. Eine amerikanische Pilotstudie fand unter Landwirten heraus, dass 75 Prozent der Landwirte an einer Angststörung leiden, mehr als die Hälfte litt an Depressionen. In Frankreich nahmen sich im Jahr 2017 650 Landwirte das Leben. Die Suizidrate lag damit 50 Prozent höher, verglichen mit dem Rest der Bevölkerung.
    Mehr über die Depression hier >>>

    Burnout als Ende des Sebstoptimierungszwangs

    Hierzu Juli Zeh, die selbst ein Burnout erlebte (Interview mit dem Tagesspiegel vom 5.11.18):
    Ab den 60er Jahren hiess es doch: Sei anders! Finde dich selbst!
    Die Grundidee war, den Menschen von Zwängen und übergeordneten Mustern zu befreien, in die er hinein gepresst wird. Sei es die Religion, die patriarchale Familie, der hierarchische Arbeitgeber. Erst mal ein schöner Gedanke. Nur, was tun mit dieser individuellen Freiheit? Aha, Selbstverwirklichung. Diesen Raum muss man dann auch füllen. Dass das mit enorm viel Druck verbunden ist, haben viele nicht bedacht.
    Die Chance wird zum Imperativ: Du musst deine Freiheit nutzen, du musst gut sein, glücklich sein. Das führt dazu, dass schon Dreijährige im Kindergarten Chinesisch lernen sollen, damit sie mit 24 Jahren einen guten Job bekommen. Die Biografie muss bis ins Letzte durchgeplant sein, nur keinen Fehler machen. Wie soll man sich denn entspannen, wenn man zu dieser Optimierung gezwungen ist, egal worum es geht, Sport, Sex, Liebe, Familie?
    Dies führt unweigerlich irgendwann ins Burnout, in die absolute Erschöpfung!

    Burnout, auch eine gestörte Fähigkeit zur Empfindung positiver Emotionen?

    Die Realität eines Menschen wird durch seinen Fokus bestimmt. Ganz ähnlich ist es mit dem Gefühl, das seine Wahrnehmung beeinflusst. Ganz oft, wenn wir uns leer und ausgebrannt fühlen, vergessen wir, dass sich dadurch, was wir wahrnehmen, verändert und achten nicht mehr auf die übrige Welt um uns herum. So erinnern sich etwa Personen, die sich gestresst oder ausgebrannt fühlen, bei einer Reihe positiver, neutraler und negativer Bilder mit erstaunlicher Detailtreue an das, was auf den negativen Bildern zu sehen ist, wo hingegen sie keine Fakten von den positiven oder neutralen Bildern zu berichten wissen.

    Aus evolutionsbiologischer Sicht möge das auch sinnvoll sein. Wenn Sie auf der Flucht vor einem Säbelzahntiger sind, achten Sie vielleicht darauf, wer Sie noch gerne zum Mittagessen hätte oder was Ihnen bei der Flucht im Weg ist, aber Sie werden wohl nicht innehalten und einen schönen Regenbogen bewundern. Für das Überleben unserer Art ist das auch gut so, doch für das individuelle Wohlbefinden und Glück ist das verheerend.

    Burnout ist im Grunde die gestörte Fähigkeit zur Empfindung positiver Emotionen – und Interventionen, die bei Burnout erfolgreich sind, haben offenbar alle etwas gemeinsam: Sie alle steigern die Fähigkeit einer Person, positive Emotionen zu erleben: Weiterlesen.

    Elternburnout

    Manchmal geraten Eltern in eine Erschöpfung, die anders aussieht als das Jobburnout. Die Mütter und Väter entwickeln Fluchtfantasien, träumen davon, die Familie zu verlassen, vernachlässigen ihre Kinder, können keine emotionale Beziehung mehr zu ihnen aufbauen und neigen sogar zu Gewalt. Sie sind erschöpft davon, dass sie Eltern sind.
    Zwei Studien erbrachten die Bestätigung, dass Elternburnout anders ist als Jobburnout. Fluchtgedanken etwa seien charakteristisch für Eltern – vielleicht weil sie sich nicht krankmelden und bei Erschöpfung nicht ohne weiteres erholen könnten. Die Wirkung auf die Kinder sei gravierend, schreiben die Autoren. Betroffene berichteten übereinstimmend von ihrem Scheitern, emotionale Bindungen zu den Kindern zu pflegen, und von ihrer Aggressivität.
    Ob die Erscheinungsformen Ursache oder Folge des Elternburnouts sind, ist wissenschaftlich nicht geklärt. Es könne auch sein, dass es eine gemeinsame Ursache für die erhöhte Neigung gebe, bei Stress in Fluchtgedanken zu verfallen und die Kinder aus den Augen zu verlieren, etwa ausgeprägter Neurotizismus. Es gibt Hinweise auf Anfälligkeiten: etwa mangelnde Unterstützung des sozialen Netzwerks, der Wunsch, eine perfekte Mutter oder ein perfekter Vater zu sein, fehlende Unterstützung durch den Partner oder fehlende Fähigkeiten, mit Stress und heftigen Emotionen umzugehen.
    (Moïra Mikolajczak u. a.: Parental burnout: What is it, and why does it matter? Clinical Psychological Science, 7/6, 2019. DOI: 10.1177/2167702619858430)

    Abgrenzung zu Erschöpfung und chronischer Fatigue bei ME/CFS und weiteren Ursachen

    Was hilft prophylaktisch und auch therapeutisch gegen das Burnout?

    • Nein sagen lernen!
      Sie können nicht immer allen alles recht machen, ob im Beruf oder in Beziehungen! Wer keine Grenzen ziehen kann, wird unzufrieden und hat bald das Gefühl, dass andere mehr über die eigene Energie und Zeit verfügen als man selbst. Lernen Sie ihre eigenen Bedürfnisse kennen und leben Sie danach.
      Die Arbeitsstelle scannen auf Situationen, in denen wir ohnmächtig sind: Überreglementierung, Ausbeutung und Allverfügbarkeit. Burnout ist eine Kompetenz. Wer ausbrennt, sollte sich das nicht als Schwäche oder Versagen auslegen, er kann stolz sein auf sein Engagement – „müdstolz„. Ein Müdstolzer weiss um seine Leistung und hat daher kein Problem damit, sich und anderen einzugestehen: „Ich kann unmöglich allem gerecht werden!“
      Er empört und wehrt sich an der richtigen Stelle.
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    • Seine Resilienz vergrössern. Die „Resilienz“ ist unsere Kraft zum „Gedeihen trotz widriger Umstände“.
      Dazu ausführlich hier >>>
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    • Dann ist in unserer Zeit des Dauerstress die Entspannung das A und O. Der Rhythmus von Spannung und Entspannung (Kontakt und Rückzug, etc.) sollte auch über die Arbeitswoche weg erhalten bleiben. Das optimale Modell für Dauerstressgeplagte und Leute mit Burnoutgefährdung ist eine 80%-Arbeit mit einem ganztägig freien Mittwoch!
      Ein tägliches Mittagsschläfchen von 30 bis 45 Minuten (nicht länger!) wäre natürlich optimal!
      Weiterlesen >>>
      Auch im Winter kann man saisongerechter Leben und sich bei kürzerem Tageslicht und grösserer Nachtlänge mehr zurückziehen, zur Ruhe kommen und länger Schlafen: also mehr erholen und entspannen (mehr dazu).
      Allgemein lässt sich sagen, dass ein Stärken des Parasympathikus (anabole Seite, regenerativ) hilft (für bessere Verdauung, gegen Schlafstörung und für optimale Reparation).
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    • In der «Müdigkeits­gesellschaft» gehen alle Mitglieder permanent an die Grenzen ihrer Mobilisierbarkeit, der Burnout wird zur Universal­pathologie, zum permanent drohenden Leistungs­infarkt. Dem setzt Byung-Chul Han in seinem neuen Buch „Vita contemplativa“ ein Ethos des Flanierens, des Schlenderns, des Verweilens entgegen.
      Denn alles, was der menschlichen Existenz nach Han einen wirklichen Sinn gibt – die Liebe, das Fest, die Kunst­erfahrung –, hat sein Geheimnis darin, nicht zweck­gerichtet zu sein, kein Ziel zu haben und Zeit zu beanspruchen für nichts als sich selbst. «Das Leben», schreibt Han, «erhält seinen Glanz erst von der Untätigkeit (…) Das wahre Leben beginnt in dem Moment, in dem die Sorge um das Überleben, die Not des schieren Überlebens aufhört. Der letzte Zweck menschlicher Anstrengungen ist die Untätigkeit.»
      Und das Zeremoniell der Untätigkeit – hier werden Hans Reflexionen unmittelbar politisch – ist auch ein Korrektiv für unser «instrumentales Natur­verständnis», das die Welt nur als Ressource betrachtet und unseren Zwecken unterwirft.
      Etwas überspitzt gesagt: Um die Natur zu schonen, die fossilen Brenn­stoffe im Boden zu lassen, müssen wir zuallererst unser Grund­ethos ändern. Um Ressourcen zu sparen, müssen wir wieder lernen, zu verschwenden: unsere Zeit. Wir müssen die Welt so annehmen, wie sie ist. Bei ihr verweilen. Um sie zu betrachten und zu feiern.
      (aus „Die Ökologie des Verschwendens“ von Daniel Binswanger, die Republik 01/23)
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    • Distanz zur Arbeit erhöhen: Keine ständige Erreichbarkeit zu Hause, also keine Arbeitsmails, natürlich auch keine Telefons. Aber auch keine ununterbrochene Erreichbarkeit während der Arbeit! Um konzentriert zu arbeiten, müssen Perioden von 30 bis 40 Minuten völlig störungsfrei sein! Deshalb:
      – Zeitfenster festlegen, wann man erreichbar ist und wann nicht.
      – Antwortfristen festlegen (nicht sofort, sondern dann, wenn es passt).
      – Push-Nachrichten ausschalten.
      – Nein-Sagen, auch mal zum Chef, wenn es sein muss!
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    • Ein Internet, welches mich beherrscht – und nicht umgekehrt, macht krank und brennt aus: Weiterlesen >>>
    • Aufgaben delegieren: Man muss nicht immer alles selber machen – und auch nicht sofort – und auch nicht perfekt!
      Perfektionismus (höchste Ansprüche an sich selbst, strenge Selbstkritik und die ständige Sorge, Fehler zu begehen) kann krank machen, depressiv und ausgebrannt. Therapeutisch hilft, dem „Inneren Kritiker“ mit Mitgefühl zu begegnen. Menschen, die trotz leistungsfordernder Gedanken in schwierigen Momenten achtsam und liebevoll zu sich waren oder eigene Misserfolge eher als Teil der menschlichen Entwicklung sahen, geht es darauf wesentlich besser.

    Stellen Sie sich die dazu die Frage: „Wem gehört mein Leben?!“ (Robert Betz)

    Wer nicht zum Burnout neigt

    Menschen, die offen, fair, verträglich und gewissenhaft sind, haben ein geringeres Risiko, ein berufliches Burnout zu erleiden. Dies ergab eine Onlinestudie mit rund 500 Erwerbstätigen. Diejenigen, die laut dem Hexaco-Persönlichkeitsmodell bei diesen Eigenschaften höhere Werte erzielten, berichteten zum zweiten Befragungszeitpunkt seltener über Burnoutsymptome als die Personen mit hohen Werten beim Neurotizismus und mit höherer Emotionalität.

    Das Forschungsteam schlussfolgert: Menschen mit den Eigenschaften Ehrlichkeit und Bescheidenheit, Verträglichkeit und Extraversion verhalten sich im Job anders. Sie engagieren sich, legen Wert auf wechselseitige Fairness und sind gut im Strukturieren und Organisieren. Sie sehen auch die negativen Aspekte ihres Jobs. Dies befähige sie, sich damit auseinanderzusetzen und aktiv etwas zu verändern.

    Wer das nicht macht, neigt dazu, sich emotional zu distanzieren, schnell zu überfordern und erschöpft zu fühlen, und gerate so schneller in ein Burnout.
    (Karolien Hendrikx u.a.: Personality and burnout complaints: The mediating role of proactive burnout prevention behaviors at work. Scandinavian Journal of Psychology, 2024. DOI: 10.1111/sjop.13005)

    Aber wie sagt man es nun dem Chef?

    Es erleben heute deutlich mehr Menschen als noch vor zwanzig Jahren chronische Erschöpfung durch Arbeit. Das ist nicht nur schlecht für persönliche Schicksale, sondern auch für die Produktivität von Unternehmen. Weswegen viel dafür spricht, dass nicht nur die Betroffenen, sondern auch die Chefs verstehen, was Burnout ist.

    Erraten kann er oder sie es nicht, selbst wenn er oder sie schon sensibilisiert ist? Drei gute Argumentationshilfen dazu können Sie hier finden.

    Warum es grossartig ist, in etwas schlecht zu sein

    Hässliche Tassen töpfern, maximal peinlich surfen: In der Freizeit darf man schlecht in etwas sein. Für die Psyche. Das Leben hat so viel mehr zu bieten als nur Talent.
    Von Kira von der Brelie in Zeit Online, 02/24

    Wenn Karen Rinaldi darüber spricht, wie schlecht sie surft, lächelt sie übers ganze Gesicht. Dabei gäbe es eigentlich genug Anlass für Frust: Fünf Jahre dauerte es, bis die US-Amerikanerin ihre erste Welle surfte. Fünf Jahre voller Scheitern, Kampf und Selbstzweifel. Fünf Jahre, in denen sie immer wieder versuchte, den richtigen Moment zu erwischen, die richtige Welle, die richtige Körperhaltung. Selbst als es endlich klappte, mutierte sie nicht plötzlich zum Surftalent. Diese Geschichte hat kein klassisches Happy End. Rinaldi fiel immer wieder vom Board, riss sich grosse Wunden in ihre Beine. Und trotzdem machte sie weiter. Selbst als sie an Brustkrebs erkrankte, hörte sie nicht auf ihre Ärzte und surfte wieder, sobald ihre Kräfte es zuliessen.

    Karen Rinaldi hatte sich einen Sport ausgesucht, der für viele gleichermassen faszinierend und schwierig zu bewältigen ist. Dieses Entlanggleiten in den rauschenden Wellen, verschmolzen mit dem Brett und dem glitzernden Nass, das so leicht und spielerisch aussieht. Wer surft, scheint Naturgewalt und den eigenen Körper souverän zu beherrschen. Aber es ist ein Sport, den nur wenige schnell meistern. Zu kraftlos und ungelenk die eigene Körpermitte, zu wenig Balance, um die Kraft des Wassers auszugleichen. Es gibt sicher einfachere Hobbys.

    Warum tat Rinaldi sich das an? Das wusste sie selbst lange nicht, erzählt sie heute im Zoom-Interview und zieht die Schultern hoch. „Ich habe sehr oft daran gedacht, aufzugeben. Dieser Gedanke ist eigentlich immer in meinem Kopf.“ Aber das Meer habe schon immer eine besondere Anziehungskraft auf sie ausgeübt. „Mein ganzes Leben lang hatte ich immer wieder Träume von Meereswellen. In den guten werde ich eins mit dem Meer und bin furchtlos, in den schlechten ertrinke ich“, erzählt sie. „Diese Spannung hat mich fasziniert. Surfen war eine Möglichkeit, sie auf eine sehr reale, körperliche Weise zu erleben.“ Dieser Gedanke zaubert ihr das breite Lächeln aufs Gesicht.

    Es war ein Gefühl, das stärker war, als der Wunsch aufzugeben. Und Karen Rinaldi wagte einen Perspektivwechsel: Sie transformierte ihren Dilettantismus vom Makel zum eigentlichen Ziel. In der New York Times veröffentlichte sie eine Kolumne über ihre talentfreie Surfleidenschaft, die so erfolgreich war, dass sie daraufhin ein ganzes Buch damit füllte. „Ich glaube, dass das Glück darin besteht, zu akzeptieren, was wir nicht können und darin zu verweilen“, schreibt sie darin. Und: „Das Leben hat so viel mehr zu bieten als nur Talent.“

    Recht hat sie. Es macht glücklich, schlecht in etwas zu sein und es trotzdem zu tun – oder auch gerade deswegen. Ulrich Reinhardt, wissenschaftlicher Leiter der Stiftung für Zukunftsfragen, forscht seit Jahren zum Freizeitverhalten der Deutschen. Er sagt: „Immer mehr Menschen wollen eine Alternative zum leistungsorientierten Alltag und suchen sich deswegen ein Hobby.“ Denn das Hobby habe keinen Zweck. Es müsse nicht effizient sein. Es solle einzig und allein dem individuellen Wohlbefinden dienen. Man nenne es allerdings eher nicht so, sagt Reinhardt, weil der Begriff „Hobby“ selbst als uncool gelte.

    Ob Feuerwehr oder Fussball – in den Siebzigern sei es ganz normal gewesen, in zwei Vereinen zu sein, mit der zunehmenden Medialisierung in den Nullerjahren sei das allerdings weniger geworden. Seit etwa zehn Jahren erlebe das Hobby eine Renaissance, beobachtet Reinhardt. Ein Faktor: die Corona-Pandemie, in der viele plötzlich selbst Gemüse anbauten oder sich in Heimwerkerprojekten verausgabten. Ein Trend, der sich hält: Auch 2023 war Gartenarbeit laut einer Erhebung der jährlichen Allensbacher Markt- und Werbeträgeranalyse das beliebteste Hobby der Deutschen, dicht gefolgt von Shoppen und Fotografieren.

    „Die Menschen wollen sich nicht mehr optimieren, sondern in ihrer Freizeit einen Kontrast zum Alltag herstellen“, sagt Reinhardt. Und dafür sei ein Hobby eben ideal. Auch bei Sportvereinen stehe nicht mehr nur die Leistung im Fokus, sondern immer mehr die Gemeinschaft. „Es geht auch darum, sich in der Umkleidekabine auszutauschen und nach dem Spiel noch was zusammen trinken zu gehen“, sagt Reinhardt. Regelmässig ins Fitnessstudio zu gehen, um abzunehmen oder etwas für den Körper zu tun, sei dagegen jedoch kein Hobby. Denn da steht der Zweck ganz klar im Vordergrund.

    Hobbys haben zwar keinen Zweck – aber eine Menge Vorteile. Sie sind sogar gut für die psychische Gesundheit. Nach Einschätzung von Theo Wehner, emeritierter Professor für Arbeitspsychologie an der ETH Zürich, können Hobbys eine wirksame Prävention gegen psychische Belastungserkrankungen wie Depressionen und Angststörungen sein. „Im Hobby kann man Zeit und Raum vergessen, man geht ganz darin auf, ist im Flow“, sagt er. „Das zu erleben, stärkt unsere geistige Gesundheit enorm.“ Zudem stelle sich die Sinnfrage im Hobby in der Regel nicht. „Es geht nicht darum, dass es objektiv sinnvoll ist, was ich da tue“, sagt Wehner. „Allein dadurch, dass ich mich dafür entscheide, Ton zu kneten oder ein Instrument zu lernen, gebe ich der Tätigkeit eine Bedeutung. Ich generiere Sinn.“

    In unserer Leistungsgesellschaft ist es geradezu subversiv, keinen Erfolg haben zu wollen. Nicht der oder die Beste sein zu wollen, sondern sich stattdessen durchwurschteln zu wollen. Frieden zu finden mit der eigenen Mittelmässigkeit, einen Bereich erlauben, der frei ist von Zwecken und Fremderwartungen. Insofern ist die Zunahme von Hobbys vielleicht auch eine Reaktion auf den alltäglichen Druck.

    Aber was ist mit der Enttäuschung über die eigene Mittelmässigkeit? Der Erkenntnis, dass man eben nicht so gut surft oder töpfert, wie erhofft. Dass Gitarre lernen schwieriger ist als gedacht und man nach Wochen zwar verhornte Finger hat, aber immer noch nicht mal ein Einsteigerstück spielen kann. Diesem unangenehmen Schmerz des Scheiterns, diese Nadelstiche des Unvermögens. Klar, theoretisch wäre es schön, sich von gesellschaftlicher Leistungserwartung frei denken zu können. Praktisch ist das aber gar nicht so leicht.

    Scheitern ist eine Übung in Selsbtmitleid

    Wenn Karen Rinaldi vom Surfen redet, klingt es, als habe sie ihren Frieden mit den eigenen Erwartungen gemacht. Die 62-Jährige spricht viel von Demut, Bescheidenheit und Akzeptanz. Davon, dass das Scheitern eine ständige Übung ist. Wie Meditation. „Ich muss immer wieder lernen, dass es darum geht, sich nicht frustrieren zu lassen und die kritische Stimme im Kopf auszuschalten. Das ist wirklich hart“, sagt sie. „Scheitern ist eine Übung in Selbstmitgefühl.“ Man wisse häufig nicht, wie schwer manches ist, bevor man es nicht selbst ausprobiert habe.

    Rinaldi hilft dieser Raum der Zweckfreiheit auch im Alltag: „Ich habe weniger Angst davor zu scheitern – auch bei den wichtigen Dingen wie Kinder erziehen oder der Ehe“, sagt sie. Rinaldi ist geschieden und hat zwei Kinder im Alter von 23 und 25 Jahren. „Sich selbst zu erlauben, schlecht zu sein, gibt einem viel mehr Freiheit als darauf zu bestehen, besser zu werden.“

    Psychologische Studien zeigen zudem: Schlimmer als das Gefühl des Scheiterns ist das Vermeiden oder Ignorieren von Fehlern. Denn wer einen Irrtum gar nicht wahrnimmt oder ihm von vorneherein aus dem Weg geht, kann auch nicht aus ihm lernen. „Genau darum geht es beim Scheitern: Wir trainieren den Teil unserer Person, der ständigen Erfolg nicht braucht“, sagt Rinaldi. „Dafür müssen wir lernen, unser Ego loszulassen.“ So paradox es auch klingt: Das Scheitern gibt einem die Chance, sich von Leistungserwartungen zu emanzipieren – auch, weil in dem Moment gar nichts anderes übrig bleibt, wenn man nicht aufgeben will.

    „Früher war mit Leistung auch gemeint, dass man jemandem Gesellschaft leistet. Heute geht es um gute Noten, viel arbeiten und darum, Qualitätsansprüchen gerecht zu werden“, sagt der Arbeitspsychologe Theo Wehner. „Und diese Ansprüche haben viele stark verinnerlicht.“ Dabei sei Qualität auch immer eine Sache der subjektiven Wahrnehmung – man könnte es also auch anders sehen. Sein Tipp: „Scheitern akzeptieren, neue Pläne schmieden und keinesfalls in die Opferrolle gehen.“

    Aber wer scheitert, kann seinen Job verlieren. Oder seine Beziehung. Es gibt natürlich auch Bereiche im Leben, da ist es besser, keinen Fehler zu machen. Nicht so im Hobby. „Das Hobby bietet Raum für Spiel und Scheitern“, sagt Wehner. Es muss nicht gelingen, was man da tut. Die eigene Existenz hängt nicht davon ab, ob man gut ist oder nicht. „Es kann einen auch erfüllen, jahrelang auf einem Surfbrett zu stehen und immer wieder nass zu werden, weil man dort seine Begrenztheit im positivsten Sinne erlebt“, erklärt Wehner. „Der irische Schriftsteller Samuel Beckett beschreibt das sehr treffend mit: Ever tried. Ever failed. No matter. Try again. Fail again. Fail better. Diese Haltung können sich Künstler erlauben, aber auch der Hobbyist sollte es sich erlauben.“ Schöner scheitern also.

    Oder wie die Hobbysurferin Karen Rinaldi es beschreibt: „Die Freude liegt im Versuchen und Herumprobieren.“ Bereichernd findet sie es auch, wenn Menschen ihr beim Surfen Tipps geben. Menschen, die sie noch nie zuvor gesehen hat. „Ich kenne sie nicht, sehe sie nie wieder und trotzdem helfen sie mir. Das ist eine Erfahrung, die fast so gut ist wie das Surfen selbst“, sagt Rinaldi. „Das erlebt man nicht, wenn man alles immer kann.“

    Das Spielerische steckt auch in der ursprünglichen Bedeutung des Hobbys: dem Steckenpferd. „In diesem Bild, über eine Wiese galoppierend, mit einem Stecken zwischen den Beinen, wird die Selbstironie sehr deutlich“, sagt Wehner. „Im Hobby darf ich mich weniger ernst nehmen. Wir sollten so mutig und neugierig sein, das auch zu tun.“

    Einer der Grundpfeiler des Hobbys ist die grosse Freiheit, selbst zu entscheiden, welche Massstäbe man sich setzt. Es geht nicht darum, ob man sich das Getöpferte auch selbst ins Regal stellen würde. Das, was zählt, ist, dass einem das Gefühl des Tons an den Händen gefällt. Oder der Klang der Gitarre, auch wenn man nur jeden dritten Ton trifft.

    Als Karen Rinaldi mit 52 Jahren eine Brustkrebsdiagnose bekam, veränderte sich ihr Leben radikal. Plötzlich war ihr Alltag geprägt von Chemo, Operationen und der Erkenntnis, dass eine Brust abgenommen werden muss, weil sie sonst keine Chance aufs Überleben hätte. Und sie machte sich Sorgen um zwei Dinge: Ob sie ihre 13- und 15-jährigen Kinder weiter aufwachsen sehen würde und ob sie weiterhin surfen gehen könnte. „Ich verstand plötzlich, wie wichtig das Surfen für mich geworden war“, sagt sie. „Uns in den dunkelsten Momenten unseres Lebens spielerisch dem Scheitern hinzugeben, kann helfen, eine neue Perspektive zu finden.“ Man muss sich nur trauen – und ein bisschen Frustrationstoleranz mitbringen.

    Beim „nutzlosen“ Hobby ist es möglich in einen Flow-Zustand zu kommen. Und Flow, wo es auch immer auftritt, macht uns glücklich!

    Warum Ärztinnen mehr Burnout entwickeln als Ärzte

    Der grösste Unterschied zwischen Ärztinnen und Ärzten besteht in der Erwartung, die wir an sie haben. Und das hat Folgen: Ärztinnen sind gefährdeter für Burnouts.
    Wir (Patientinnen und Patienten) wünschen uns eine einfühlsame Behandlung nach den aktuellen medizinischen Erkenntnissen. Ärztinnen sind eher in der Lage als ihre männlichen Kollegen, beide Erwartungen gleichermassen zu erfüllen: Sie zeigen mehr Empathie im zwischenmenschlichen Umgang. Das lässt sich zum Beispiel daran erkennen, dass sie mehr Fragen stellen und sich mehr Zeit für Gespräche nehmen. In Ärztin-Patienten-Gesprächen geht es häufiger um Gefühle verglichen mit Arzt-Patienten-Gesprächen. Deshalb bekommen Ärztinnen häufiger das Prädikat „gut“ als ihre männlichen Kollegen.
    Wenn sich aber ein Arzt als besonders einfühlsam zeigt, wird ihm im Gegensatz dazu eher das Prädikat „sehr gut“ verliehen. Allein schon deshalb, weil wir seltener die Erfahrung machen, dass Männer über Gefühle reden, sind wir positiv überrascht und schätzen in der Folge auch die fachlichen Qualitäten des Arztes höher ein. Diese Verknüpfung passiert bei Ärztinnen seltener und weniger stark.
    Wie seltsam: Wir wünschen uns einfühlsamere Medizin, bewerten sie aber unterschiedlich, je nachdem, ob wir sie von einer Frau oder einem Mann bekommen. Wir schimpfen auf die kalte, unpersönliche Apparatemedizin und verurteilen gleichzeitig den sanfteren Ansatz als weniger kompetent, womöglich weniger hilfreich – zumindest tendenziell.
    Relevant ist dieses Phänomen allein schon deshalb, weil inzwischen die Hälfte der Mediziner weiblich sind und zwei Drittel der Medizinstudenten. Frauen prägen die Medizin der Zukunft. Aber auch wir Patienten. (Quelle: Silke Jäger, piqd, 5.5.18).
    Daraus entsteht eine Dynamik, die zur Folge hat, dass Ärztinnen schneller und anders ausbrennen als Ärzte.
    Der weiterführende Text erklärt sehr anschaulich, wieso: burnout-bei-aerztinnen.pdf

    Millennials brennen speziell aus

    Das Gefühl permanenter psychischer Überlastung drängt vor allem die Generation der zwischen 1981 und 1996 Geborenen (Millennials) sowohl zum Dauerarbeiten, wie auch zum Dauerndwegwollen. Das Lesen dieses fundierten Essay lohnt sich natürlich auch für andere Geburtsjahrgänge:
    www.buzzfeednews.com/article/annehelenpetersen/millennials-burnout-generation-debt-work.

    Zur Lektüre: Byung-Chul Han: «Vita contemplativa oder von der Untätigkeit». Ullstein, Berlin 2022. 128 Seiten, ca. 37 Franken.

    Veröffentlicht durch Dr.med. Thomas Walser am 07. Mai 2018
    Letzte Aktualisierung:
    25. Mai 2025

  • CheckUp – Sinn und Unsinn

    CheckUp – Sinn und Unsinn

    Wer viel misst, misst auch viel Mist

    Hier gleich zu den wichtigsten Vorsorgeuntersuchungen >>>

    Wenn eine vitale Dreissigerin oder ein kerngesunder Vierziger zum Checkup geht, prüfen Ärzte gründlich und wissen schon: Sie finden nichts.

    Es ist erfreulich, Gesunde zu untersuchen und ihnen zu bestätigen, dass alles in Ordnung ist. Störend ist nur, dass im Wartezimmer Kranke mit Schmerzen und Ängsten sitzen. Bedenklich wird es, wenn Patienten nicht mehr selbst spüren, wie es ihnen geht. Haben wir verlernt, auf unseren Körper zu hören? Eigentlich wollte ich als Arzt fragen: Wie geht es Ihnen? Wenn Sie uns nicht sagen können, wo es fehlt, können wir es erst recht nicht.

    Wer hängt so sehr am Checkup? Vielleicht ist er ein Relikt aus Zeiten, als man in der Medizin alles für machbar hielt und glaubte, die moderne Diagnostik könne in den Körper eindringen. Viele denken noch so, einige haben diese Illusion aufgegeben. Der menschliche Körper funktioniert nicht wie ein Auto. Doch Kassen, Lebensversicherungen, das Strassenverkehrsamt und viele Arbeitgeber verlangen den Generaluntersuch als Bedingung für Führerschein oder Versicherung. Und Ärzte verzichten ungern auf den Checkup: Er bringt gutes Geld. So wird er wohl noch eine Weile bleiben. Ein schlechtes Beispiel ist eine Spezialistenvereinigung in Zürich, die massiv Werbung macht und ein „Checkup-Zentrum“ eröffnet hat. Welch medizinischer Unsinn – und welche Goldgrube. Der „Executive Checkup“ kostet bis zu 3500 Franken und umfasst viele Tests sowie eine CT oder MRT des Brust- und Bauchraums – Untersuchungen mit 200-facher Strahlenbelastung eines Thoraxröntgenbildes. Ein „Checkup“, der mehr Risiken schafft, als er beseitigt!

     

    Infarkt nach normalem EKG

    Se non è vero, è buon trovato. Die Geschichte erzählt man sich immer wieder: Ein gesunder Mann besucht den Herzspezialisten für eine umfassende Untersuchung. Der Arzt prüft ihn gründlich: Er hört das Herz ab, macht ein EKG, führt einen Belastungstest durch, nutzt den Herzultraschall und nimmt Blut ab. Schliesslich verkündet er mit bestem Wissen: Ihr Herz ist in bester Verfassung. Doch wenige Tage später erleidet der Mann einen tödlichen Herzinfarkt.

    Untersuchungen bei beschwerdefreien Menschen bringen selten Ergebnisse. Ein krankes Herz, das bei kardiologischen Tests auffällig wird, zeigt sich vorher: durch Angina-Pectoris-Schmerzen bei Anstrengung, Atemnot, verminderte Leistungsfähigkeit oder geschwollene Füsse. Ein fortgeschrittener Krebs macht sich bemerkbar, und solange er das nicht tut, bleibt er meist unentdeckt. Findet man ihn, ist es oft zu spät. Abgesehen von wenigen Ausnahmen existiert kein verlässlicher Früherkennungstest für Krebs. Auch gibt es keinen Bluttest, der einen bösartigen Tumor im Körper anzeigt. Die sogenannten Tumormarker, Bluteiweisse, die auf bestimmte Krebsarten hinweisen sollen, haben sich als unzuverlässig für ein Screening erwiesen.

    Viele Tests sind unsinnig

    Was bedeutet Screening? Man versteht darunter eine breit angelegte Suchmethode nach einer bestimmten Krankheit. Die in Frage kommende Bevölkerung soll dabei möglichst vollständig diesem Suchtest unterzogen werden. Die zytologische Untersuchung des Abstrichs vom Gebärmutterhals ist ein solches Screening. Die Messung des Augendrucks bei älteren Menschen gehört ebenfalls dazu, wie auch die typischen Hausarzttätigkeiten des Blutdruckmessens, des Blutzuckers, Blutfettbestimmungen und der Blickdiagnose einer Adipositas. Aber viele solcher Tests, die auch Sinn machen und einfach durchzuführen sind, gibt es nicht. Und mancher derartige Untersuch, noch unlängst regelmässig durchgeführt, ist wissenschaftlich nicht mehr haltbar und wird aus dem Repertoire der Präventivmediziner gestrichen. In Tabelle 1 sind die heute gängigen und gebräuchlichen Untersuchungen zusammengestellt. Eine gute und ausführliche Arbeit darüber finden Sie hier: Hunziker S, Hengstler P, Zimmerli L, Battegay M, Battegay E. Check-up-examinations in internal medecine. Internist. 2006;47:55-65.

    Es geht hier nicht darum, Angst zu verbreiten, aber die Illusionen sind gefährlich. Es geht auch nicht darum, Patientinnen und Patienten vom Praxisbesuch fernzuhalten. Sie sollen gehen, wenn sie sich ängstigen oder schlecht fühlen. Es ist aber unerlässlich, dass wir alle wieder lernen, mehr uns selber und unserem Gespür zu vertrauen. Mindestens solange man gesund ist und auch so lebt, sollte man sich selbst mehr vertrauen als seinem Arzt. Mancher Patient oder manche Patientin, die sich bei uns untersuchen lassen, sehen in einem unauffälligen Checkup und in einem normalen Screeninguntersuch geradezu einen Freibrief, die bisherige ungesunde Lebensart munter weiterzuführen. Es ist ja alles in Ordnung: Die Ärztin hat gesagt, das Rauchen habe mir nichts angehabt. Screening, so scheint es mir, ist häufig ein Ritual, um mit der Angst vor Krebs und Krankheiten fertig zu werden.

    Weitere unsinnige Untersuchungen und medizinische Interventionen werden momentan von den amerikanischen Aerzte-Fachgesellschaften gesammelt: siehe hier weiter unten.

    Checkup gegen die Angst – „hidden agenda“

    Hinter jedem Wunsch nach einem Checkup steckt ein Grund, oft Angst. Wichtiger als die Untersuchung selbst ist es, dieser Angst auf den Grund zu gehen und mit den Patienten darüber zu sprechen. Ich beginne das Gespräch beim Checkup-Wunsch oft mit: „Es gibt zwei Risiken, die für den Checkup wichtig sind: ein familiäres und ein persönliches. Sind Sie kürzlich grosse gesundheitliche Risiken eingegangen? “ Hier kann der Mann plötzlich offenbaren, dass er kürzlich eine Prostituierte besucht hat und nun eine Geschlechtskrankheit fürchtet, unsicheren Sex mit einer Unbekannten hatte oder auf einer Party Drogen nahm. Dies gehört zur „hidden agenda“ seines Checkup-Wunsches. Oft zeigt sich auch, dass ein Bekannter oder Verwandter erkrankt ist und man nun selbst Angst hat. Oder die Lebensumstände haben sich stark verändert und verunsichern. Vielleicht hat das Fernsehen über eine gefährliche Krankheit berichtet. Oder der frühere Hausarzt empfahl den jährlichen Checkup.
    „Hidden agenda“ bezeichnet nicht deklarierte Beweggründe für einen Arztbesuch, wie Erwartungen, Gefühle und Ängste, die der Patient nicht leicht preisgibt. Hinweise auf eine unentdeckte „hidden agenda“ können spürbare oder geäusserte Unzufriedenheit, häufiger Arztwechsel, häufige Konsultationen ohne klinische Veränderungen oder Patienten, die übertrieben von ihrer Symptomatik beeinträchtigt scheinen, sein. Das Erkennen einer „hidden agenda“ verhindert unnötige, fruchtlose und im schlimmsten Fall falsch positive Abklärungen, die nicht mit dem Konsultationsgrund zusammenhängen.

    Dazu folgende wichtige Überlegung für Männer:

    (durch Anklicken bergrössern)

    Was ist dann prophylaktisch wichtig?

    Zentral scheint immer mehr die Vermeidung von chronischen Entzündung und Entzündungsneigung in unserem Körper: Dauerstress, Schlafstörung, ungesunde Ernährung und zu wenig Bewegung fördert dies.

    Gespräch als Alternative

    Also kann auch der an sich unsinnige Checkup durchaus mal Sinn machen. Im Gespräch zwischen Ärztin und Patient wird erörtert, was zur Konsultation geführt hat, was genau ist der Grund, warum gerade jetzt, was sind die Erwartungen, Hoffnungen, Ängste? Und um allfällige Befürchtungen zu zerstreuen, dürfen schon mal einige wenige und einfache Tests durchgeführt werden. Dann gibt es das Gespräch über allfällige Missverständnisse und Illusionen, was den CheckUp und die Screening-Untersuchung betrifft. Im weiteren kann aufgrund früherer schwerer Krankheiten, auch in der nächsten Verwandtschaft, das persönliche Risiko abgeklärt und ein Untersuchungsplan besprochen werden. Und schliesslich ist es durchaus sinnvoll, auch einmal über die Lebensgewohnheiten zu sprechen: das Rauchen, den Sport, das Übergewicht, den Alkohol, die Essgewohnheiten usw. Und wenn Sie dann als Patientin oder Patient von dieser Konsultation und vom Gespräch etwas von all dem nach Hause nehmen können, dann hat sich der Gang zum Arzt gelohnt. Vielleicht kann man dann diese Art von «CheckUp» anstelle des bisherigen periodischen Generaluntersuchs wärmstens empfehlen.

    Und noch was: Bei erhöhten Risiken für bestimmte Krankheiten sind regelmässige Untersuchungen nötig. Solche Risikokonstellationen liegen etwa vor, wenn in der Familie gewisse Krankheiten aufgetreten sind, von denen man weiss, dass sie familiär gehäuft vorkommen. Wenn etwa ein Verwandter ersten Grades (Eltern, Geschwister oder Kind) an Dickdarmkrebs erkrankt oder verstorben ist, sind entsprechende Untersuchungen alle paar Jahre angezeigt. In Tabelle 2 sind die Risikogruppen und die empfohlenen Untersuchungen zusammengefasst.

    Hier gleich ein Wort zu den modischen Gentests:

    Gentests?

    Gemäss einer äusserst gut durchgeführten Studie ist eine simple Familienanamnese, die jeder Hausarzt macht, effektiver als komplexe und kostenintensive Genanalysen.
    Tatsächlich werden bei einer zusätzlichen Familienanamnese an 10’000 Personen 400 bis 500 Patienten mehr aufgespürt, die der Beratung und einer Betreuung für kardiovaskuläre Risiken (notabene das wichtigste Problem des heutigen Menschen) bedürfen. (Ann Int Med. 2012;156:253 und 315)

    Tabelle 1: Die wichtigsten Vorsorgeuntersuchungen

    Was:Wer:Wie oft:
    Blutdruckalle ab dem 21. Altersjahralle 3-5 Jahre Messung in Arztpraxis – ev. häufiger, falls in Familie metabolisches Syndrom
    Cholesterin + weitere Blutfettea) Männer und Frauen ab 40 Jahren ohne Risiko
    b) ab 20 Jahren für Personen, die rauchen oder mit familiärer Belastung für Herzkrankheiten oder erhöhtem Cholesterin, erhöhtem Blutdruck.
    a) alle 5 Jahre Blutfettmessung
    b) nach ärztlichem Rat, mind. alle 5 Jahre
    Blutzucker
    (Diabetes mellitus)
    über 40 Jahre: übergewichtige Patienten mit einer familiären Belastung für Zuckerkrankheit (Diabetes)Nüchternblutzucker, ev. HbA1c, Wiederholung auf ärztlichen Rat
    BauchumfangmessungMänner über 94 cm
    Frauen über 80 cm
    Kontrollen gehen zusammen mit Blutdruck, Cholesterin und Blutzucker!
    Brustkrebs:
    a) Selbstuntersuchung durch Abtastung
    b) medizinische Untersuchung
    c) Mammographie
    Hohes Risiko haben Frauen mit einer Verwandten ersten Grades (Eltern, Geschwister, Kind) mit Brustkrebs, der vor 40 Jahren aufgetreten ist oder 2 Verwandte 1.Grades vor 60.
    a) alle Frauen
    b) alle Frauen
    c) ?
    Bei hohem Risiko: genetische Beratung und jährliche Mammographie nach 35-50jährig!
    a) ideal ist monatlich nach der Menstruation
    b) bei gynäkologischer Routinekontrolle
    c) allgemein sehr umstritten
    EierstockkrebsHohes Risiko haben Frauen mit 2 Verwandten ersten Grades (Mutter, Schwester, Tochter) mit Eierstockkrebs jeden Alters oder ein Fall von kombiniertem Brust- und Eierstockkrebs oder 1 Verwandte 1.Grades mit Eierstockkrebs jeden Alters und 1 Verwandte 1.Grades mit Brustkrebs unter 50.

    b) alle Frauen?

    genetische Beratung und jährlich CA 125, Mammographie und Ultraschall!

    b) sehr umstritten!

    Gebärmutterhalskrebs (Zervixkarzinom)3 Jahre nach Beginn Geschlechtsverkehr bis 65jährig.
    Nicht mehr nach Entfernung der Gebärmutter wegen einer Ursache, die nicht Krebs war.
    HPV-Test nie unter 30 Jahren.
    3-jährlich Krebsabstrich (PAP).
    Bei Frauen im Alter zwischen 25 und 49 Jahren nach einem negativen HPV-Test Kontrollintervall  nur noch alle 5 Jahre!
    Bei Frauen über 50 ist sogar ein längeres Intervall vertretbar.
    Hodenkrebsalle Männer ab Pubertätoft selbst abtasten!
    Dickdarmkrebs
    (kolorektales Krazinom)
    Hohes Risiko bei einem Verwandten 1.Grades (Eltern, Geschwister, Kinder) mit Dickdarmkrebs, der vor 40jährig auftrat – oder 2 Verwandte 1.Grades vor 70 – oder familiärer adenomatöser Polypose (FAP).
    Risikorechner QCancer >>
    Zwischen 50 und 70jährig:
    Bis 3 Punkte im Imperiale-Score:
    Stuhluntersuchung auf Mikroblutspuren (immunochemischer Test = qFIT) alle 2 Jahre.
    Mehr als 3 Punkte im Imperiale-Score:
    Dickdarmspiegelung. Wenn bei einer gut gemachten Darmspiegelung nichts gefunden wurde, genügt es, die nächste in zehn Jahren zu machen!
    Augendruck (grüner Star)a) alle ab 50
    b) Grüner Star in Familie, Diabetes, schwere Fehlsichtigkeit
    a) alle 5 Jahre anlässlich Augenkontrolle
    b) ab 40 Jahren, Wiederholung auf ärztlichen Rat
    Hautkrebs (Melanom)siehe Risikogruppeauf ärztlichen Rat
    ProstatakrebsMänner ab 50 Jahren – bei familiärem Vorkommen: ab 40je nach erstem Resultat (siehe meine Seite dazu!)

    Tabelle 2: Risikogruppen

    Anstelle von allgemeinen Empfehlungen werden heute viele Vorsorgeuntersuchungen gezielt für Risikogruppen empfohlen:

    HautkrebsBrustkrebsDickdarmkrebsHerz-Kreislauf-Krankheiten
    Personen, in deren direkter Verwandtschaft Hautkrebs vorgekommen ist, Hellhäutige, Lichtempfindliche, die häufig einen Sonnenbrand erlitten haben oder die oft in Aequatornähe waren und kaum braun werden, sowie Patienten mit vielen „Leberflecken“ oder Flecken, die asymmetrisch, grösser als 5 mm sind oder sich schnell verändern oder wachsen.Brustkrebs ist die häufigste Krebsform bei Nichtraucherinnen. Durch regelmässige Selbstuntersuchung mittels Abtastung können viele Formen frühzeitig erfasst werden. Eine Röntgendarstellung der Brüste (Mammographie) wird Frauen über 35 mit bekannter Brustkrebserkrankung der Mutter oder Geschwister vor deren Abänderung empfohlen. Bei allen übrigen Frauen ist sie als Screening-Methode stark umstritten.
    (siehe mehr gleich unten)
    Über 50jährige, in deren Familie Darmkrebs vorgekommen ist (siehe Tab.3 unten!), sowie solche mit einer bekannten chronisch- entzündlichen Darmerkrankung sollten jährlich Stuhlproben auf versteckten Blutverlust untersuchen lassen (=FIT-Test).
    Ein hohes Risiko besteht auch bei Übergewicht und bei Raucher!
    Angehörige von Familien, in denen gehäuft Erkrankungen der Herzkranzgefässe oder Schlaganfälle vorgekommen sind, sowie Raucher und Übergewichtige und junge Glatzenträger sollten sich regelmässig bezüglich Blutdruck, Zuckerkrankheit oder einer Fettstoffwechselstörung untersuchen lassen. Das Ruhe-EKG hat praktisch keinen Vorhersagewert, ob jemand einen Herzinfarkt erleiden wird. Seine Bedeutung liegt darin, die Ursache bestimmter Brustschmerzen zu erklären.


    Zervix-Screening (Gebärmutterhalskrebs): genügt ein Intervall von fünf Jahren?

    Die hier vorgestellte Studie kommt zum Schluss, dass bei Frauen im Alter zwischen 25 und 49 Jahren nach einem negativen HPV-Test das Kontrollintervall aufgrund des kleinen nach drei Jahren gefundenen Risikos auf fünf Jahre verlängert werden kann. Bei Frauen über 50 sei sogar ein längeres Intervall vertretbar.
    (Rebolj M, Cuschieri K, Mathews CS, Pesola F, Denton K, Kitchener H; HPV pilot steering group. Extension of cervical screening intervals with primary human papillomavirus testing: observational study of English screening pilot data. BMJ. 2022 May 31;377:e068776. doi: 10.1136/bmj-2021-068776. [Link])

    Junge Frauen leiden immer öfter an Brustkrebs

    Zwar treten vier Fünftel der Brustkrebsfälle erst ab 50 auf, am häufigsten ab 70. Jedoch steigen gemäss den Zahlen der Nationalen Krebsregistrierungsstelle in der Schweiz die Brustkrebsrate bei den 40- bis 44-jährigen Frauen seit den 1990er-Jahren fast zwanzig Prozent, bei den 45- bis 49-jährigen rund sieben Prozent.
    Zwar ist Brustkrebs über die Jahre weniger tödlich geworden. Dennoch ist er nach wie vor die häufigste Krebstodesursache bei den Frauen (1400 Todesfälle pro Jahr in der Schweiz) – gefolgt von Lungenkrebs (1300).

    Zu den Ursachen für die steigenden Brustkrebsraten existieren verschiedene Hypothesen. So dürften bekannte Risikofaktoren wie Übergewicht und Fettleibigkeit, Alkohol- und Tabakkonsum, aber auch ein höheres Alter bei der ersten Schwangerschaft dazu beitragen. Medikamente, die Ernährung oder hormonaktive Chemikalien wie Pestizide stehen ebenfalls im Verdacht. 

    Eine frühe erste Menstruation erhöht das Brustkrebsrisiko zusätzlich als eigener Risikofaktor. Ein weiterer Grund für die Zunahme der Krebsfälle bei jungen Frauen könnte auch sein, dass in dieser Altersgruppe entgegen anderslautender Empfehlung vermehrt Brustkrebs-Früherkennung betrieben wird.

    Wichtig dabei ist, dass eine Krebsdiagnose im Leben von jungen Frauen noch einschneidender ist als im höheren Alter. Zudem sind aufgrund des häufig dichteren Brustgewebes Mammografie-Untersuchungen bei unter 50-jährigen Frauen weniger zuverlässig als bei älteren. Das bedeutet, es werden mehr Brustkrebserkrankungen nicht erkannt und es gibt mehr falsch-positive Resultate, die zu teilweise belastenden und aufwendigen Folgeuntersuchungen führen.

    Brustkrebs-Screening durch Mammographie?

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    Minimaler Effekt, aber grosse Verunsicherung und Folgeschäden: Nach gesicherten Statistiken hilft das Screening (alle 2 Jahre eine Mammographie) einer von 1000 Frauen.

     Brust selbst auf Knoten abtasten: Eine App hilft

    Frauen können auch selbst etwas tun: Es existiert ein sehr gutes App «Brust-Selbstcheck», die zur Selbstuntersuchung der Brust anleitet. Entwickelt wurde sie auf private Initiative von Brida von Castelberg und Stephanie von Orelli, Chefärztinnen der Frauenklinik Triemli in Zürich. «Wir wollen damit die Wahrnehmung der Frauen stärken und ein Anfreunden mit der eigenen Brust provozieren», sagt Stephanie von Orelli. Denn die meisten Frauen entdecken ihren Brustkrebs selbst. (aus Beobachter 07/19)

    Evidenz der Checkup-Untersuchungen

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    EVIPREV – Präventions-Empfehlungen verschiedener Schweizer Universitäten

    Diese Übersichtstabelle von Eviprev liefert einen raschen Überblick zu den präventiven und gesundheitsfördernden Massnahmen:
    Welche Intervention ist wann und bei wem aufgrund der wissenschaftlichen Evidenz indiziert, beziehungsweise nicht indiziert.
    Die EviPrev-Empfehlungen orientieren sich an jenen der U.S. Preventive Services Task Force (USPSTF), an weiteren internationalen Empfehlungen und solchen von schweizerischen Fachgesellschaften. Sie werden durch das EviPrev Scientific Committee kritisch beurteilt und für die Bevölkerung in der Schweiz zwischen 18 und 75 Jahren aufgearbeitet sowie wiederkehrend aktualisiert und veröffentlicht. Dabei erfolgt eine Kategorisierung nach:

    1. Zu vermeidenden Krankheiten/Risiken (vertikale Achse links)
    2. Altersgruppen (horizontale Achse)
    3. Stärke der Empfehlung bzw. Evidenz (Farbkodierung, Legende oben)
    eviprev.ch/wp-content/uploads/2022/01/211208-Tableau-EviPrev-D.pdf

    Dickdarmspiegelung – Koloskopie

    Zuerst:
    Welche Nebenwirkungen hat eine Dickdarmspiegelung:
    Hierzu gab es 2013 eine sehr grosse Studie: „Adverse events requiring hospitalization within 30 days after outpatient screening and nonscreening colonoscopies“ von C. Stock et al im gastrointestinal endoscopy  2013.
    Von 33000 ausgewerteten  Koloskopien ergaben sich folgende Komplikationsraten:
    Perforation: 0.7/1000 (2017 in Zürcher Studie: 1-2 Perforationen/1000!)
    Blutung: 0.5/1000 (2017 in Zürcher Studie: 6 Blutungen/1000!)
    1:2000-4000 eine nötige Operation deswegen
    Herzinfarkte, Schlaganfall u.a. waren nicht häufiger als in einer Kontrollgruppe.

    Tabelle 3: Überwachung Dickdarmkrebsgefährdeter (Kolorektales Karzinom) Familien:

    KriterienMethodeAlter
    1 Verwandte 1.Grades (Eltern, Geschwister, Kinder)
    über 40jährig (bei  Auftreten des Dickdarmkrebses
    nichts tun
    1 Verwandte 1.Grades
    unter 40jährig
    Koloskopie alle 5 JahreBeginn mit 25 Jahren
    2 Verwandte 1.Grades
    Durchschnittsalter >70
    nichts
    2 Verwandte 1.Grades
    Durchschnittsalter 60-70
    einmalige Koloskopie55 Jahre
    2 Verwandte 1.Grades
    Durchschnittsalter 50-60
    Koloskopie alle 5 Jahre35-65 Jahre
    2 Verwandte 1.Grades
    Durchschnittsalter unter 40
    Koloskopie alle 3-5 Jahre30-65 Jahre
    3 nahe VerwandteKoloskopie alle 2 Jahre25-65 Jahre
    Familiäre adenomatöse Polypose (FAP)Koloskopie jährlich12-40

    Risikorechner QCancer >>

    Imperialscore zur Abschätzung des Dickdarmkrebsrisikos mit Alter, Geschlecht, Gewicht, Rauchen:

    Quelle: https://www.rosenfluh.ch/media/arsmedici/2017/24/Das-Koloskopie-Screening-senkt-das-Risiko-an-Darmkrebs-zu-sterben.pdf

    Bis 3 Punkte: immunochemischer Stuhltest auf Mikroblut (FIT-Test) – darüber: Spiegelung.

    Noch zu Kontroll-Koloskopien nach Finden von Dickdarm-Polypen:
    Über 65jährige haben ein höheres Risiko für Komplikationen und sehr kleine Ausbeute (nur 0.2% waren bei Kontrolle ein Kolon-Krebs)
    (JAMA Intern Med. 2023 May 1;183(5):426-434. doi: 10.1001/jamainternmed.2023.0078)

    Choosing wisely

    Nicht alles, was die Medizin zu bieten hat, dient dem Patienten. Die US-Initiative «Choosing wisely» (auf Deutsch etwa «Wähle klug») hat bereits über 100 Ratschläge gegeben, worauf Patienten besser verzichten. Die Initiative will helfen, Untersuchungen und Behandlungen zu vermeiden, die häufig, aber unnötig sind – und schaden können. Die US-Konsumentenorganisation Consumer Reports unterstützt die Kampagne, bei der mittlerweile alle medizinischen Fachgesellschaften mitmachen, von Allergiespezialisten bis zu Palliativmedizinern. Jede nennt fünf oder zehn Massnahmen, die «Ärzte und Patienten infrage stellen sollten», und erklärt kurz wieso. In der Schweiz ist ein grosser Trägerverein Smarter Medicine – Choosing Wisely Switzerland gegründet worden. Bereits haben diverse ärztliche Fachgesellschaften ihre Top-5-Listen veröffentlicht:  www.smartermedicine.ch

    Auf diesen Listen mit unnützen Therapien und medizinischen Massnahmen finden sich u.a.:

    • Keine Messung des Prostata-spezifischen Antigens (PSA) zwecks Prostatakrebs-Screening ohne eine Diskussion von Risiko und Nutzen.
    • Kein Weiterführen einer Langzeit-Pharmakotherapie bei gastrointestinalen Symptomen mit Protonen-Pumpenblockern (PPI) ohne Reduktion auf die tiefste wirksame Dosis.
    • Vermeiden von nicht-steroidalen Antirheumatika (NSAR) bei Personen mit Bluthochdruck, Herzversagen und/oder chronischer Nierenerkrankung.
    • Geben Sie Kindern unter 4 Jahren keine Mittel gegen Erkältung.
    • Planen Sie Wahl-Kaiserschnitte nicht vor der 39. Schwangerschaftswoche.
    • Wenn bei einer gut gemachten Darmspiegelung nichts gefunden wurde, genügt es, die nächste in zehn Jahren zu machen.
    • Werden bei einer Darmspiegelung maximal zwei kleine, harmlose Polypen entfernt, genügt es, frühestens nach fünf Jahren die nächste Darmspiegelung machen zu lassen.
    • Das Osteoporose-Screening lässt man bei Frauen unter 65 und Männern unter 70 Jahren ohne Risiko besser bleiben.
    • Kurzzeitige Bewusstlosigkeit (Synkope): Normalerweise sind weder CT noch MRI nötig.
    • Akute Entzündung der oberen Luftwege und Nasennebenhöhlen: auf Antibiotika kann man oft, auf Röntgen oder CT meist verzichten.
    • Rückenschmerzen: in den ersten sechs Wochen weder Röntgen noch CT oder MRI (ausser bei Nervenausfällen oder weiteren schweren Krankheiten, sog. „Red Flags“!).
    • Verwenden Sie Antipsychotika nicht als Mittel der ersten Wahl bei der Behandlung von Verhaltensauffälligkeiten und psychischen Symptomen bei Demenz.
    • Bei den meisten älteren Erwachsenen mit Diabetes die Gabe anderer Medikamente als Metformin vermeiden, um einen Hämoglobin-A1c-Wert (HbA1c) von unter 7,5 % zu erreichen; eine moderate Blutzuckerkontrolle ist im Allgemeinen besser.
    • Keine Benzodiazepine oder andere sedativ-hypnotische Arzneien bei älteren Erwachsenen als Mittel der ersten Wahl verwenden gegen Schlaflosigkeit, Unruhezustände oder Verwirrtheit.
    • Leichtere Kopfverletzungen von Kindern: CT nur, wenn absolut nötig.
    • Beschwerdefreie Personen profitieren nicht von der Suche nach Verengungen der Halsschlagader.
    • Keine Antibiotika gegen Bakteriurie bei älteren Erwachsenen verwenden, ausser es liegen spezifische Harnwegssymptome vor.
    • Bei Schwerkranken: eingepflanzte Herz-Defibrillatoren ausschalten, wenn Lebensverlängerung nicht mehr gewünscht wird.
    • Patienten mit Demenz: keine Ernährungssonde durch die Haut.
    • Bei normaler Schilddrüsenfunktion: kein Szintigramm zur Abklärung von Knoten.
    • Bei beschwerdefreien Personen mit Herzgeräusch: Keine wiederholten Ultraschall-Untersuchung des Herzens, wenn ein erster Ultraschall nichts ergeben und sich nichts verändert hat.
    • Bei leichten Herzklappen-Veränderungen ohne Beschwerden: keine Routine-Kontrollen mittels Herz-Ultraschall.
    • Keine Asthma-Diagnose und -Behandlung ohne Untersuchung der Lungenfunktion (Spirometrie).
    • Kein Screening auf Gebärmutterhalskrebs bei Frauen über 65 Jahre, die zuvor diesbezüglich nie Auffälligkeiten gezeigt und kein erhöhtes Risiko haben.
    • Beruhigungsmittel wie Valium bei Senioren nicht als Schlafmittel der ersten Wahl einsetzen.
    • Zur Diagnose von Allergien keine unbewiesenen Labortests oder wahllos ganze «Testbatterien» einsetzen, d.h. nur IgE-Tests auf der Haut oder im Blut, die klinisch beim Patienten anzunehmen sind – und nie die unsinnigen IgG-Tests!
    • Kein Belastungs-EKG (auf dem «Velo») bei Personen ohne Beschwerden und nur kleinem Risiko.
    • Bei beschwerdefreien Personen mit normaler Nierenfunktion: kein Screening auf Verengungen in den Nierenarterien.
    • Kein Screening auf Eierstockkrebs bei Frauen ohne Beschwerden und Risikofaktoren.
    • Entfernung von Metall-Implantaten an Füssen und Unterschenkel: Präoperative Antibiotikumgabe reduziert Wundinfektrisiko nicht wesentlich!
      (Backes M et al. Effect of antibiotic prophylaxis on surgical site infections following removal or orthopedic implants used for treatment of foot, ankle, and lower leg fractures. A randomized clinical trial. JAMA 2017; 318: 2438-2445.)

    www.choosingwisely.org

    Schweizer Empfehlungen für den Check-up 2015

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    Der vermessene Mann

    Quantified Self heisst eine amerikanische Bewegung, die jetzt auch auf Europa übergreift. Junge Männer machen sich dabei zu wandelnden Statistiken. Ihr Ziel: sich zu optimieren.
    von Juli Zeh

    Morgens nach dem Aufstehen tragen sie ihr Schlafverhalten in eine Tabelle ein. Sie messen Körpergewicht, Lungenvolumen, Grad der Mundfeuchtigkeit. Vor dem Mittagessen haben sie bereits den täglichen Intelligenztest durchgeführt. Sie scannen die Pigmentierung ihrer Haut und messen die eigenen Gehirnströme. Sie dokumentieren akribisch, was sie essen, wie weit sie joggen und was der Toilettenbesuch gebracht hat. Die Daten stellen sie ins Internet. Sie sind keine Untertanen in einer Science-Fiction-Gesundheitsdiktatur, sondern Bürger demokratischer Staaten, die ihre Freiheit dazu nutzen, das eigene Leben in eine Statistik zu verwandeln.
    Quantified Self heisst eine wachsende Bewegung aus den USA, die auf Europa übergreift. Die Selbstvermesser rücken dem eigenen Körper mit allerlei technischem Spielzeug auf den Pelz. Vom Stirnband mit EEG-Sensoren bis zum Blutdruckmessgerät mit USB-Anschluss: Durch Selbstvermessung wird die Liebesbeziehung zwischen Mensch und Maschine endlich intim.

    Wie eine männliche Magersucht
    Den Selbstvermessern geht es um Optimierung. Sie wollen die erfassten Daten nutzen, um ihre Gesundheit, Fitness und Leistungsfähigkeit so weit wie möglich zu steigern. Der Feind heisst nicht Übergewicht und Unsportlichkeit, sondern Unordnung, Kontrollverlust, fehlende Disziplin. Das Ich als Forschungsobjekt: Der Selbstvermesser hofft, sich im Datenspiegel zu erkennen, Fehler auszubügeln und zu einem besseren Leben zu gelangen. Als wäre Glück ein Rechenergebnis, erzielbar durch die korrekte Anwendung einer Formel. So betrachtet stellt Quantified Self eine Art männliche Magersucht dar. Junge Mädchen meinen, durch maximale Askese einem idealisierten Selbstbild näherzukommen; die überwiegend männlichen Selbstvermesser glauben, mit dem Einsatz von Technik eine perfektionierte Version ihrer selbst verwirklichen zu können. Schönheit oder Leistungsfähigkeit sind dabei nur fiktive Ziele, die, ähnlich dem Horizont, beim Näherkommen in immer weitere Fernen rücken.
    Die Selbstvermesser rücken dem eigenen Körper mit allerlei technischem Spielzeug auf den Pelz.
    In Wahrheit geht es nicht um das Erreichen eines bestimmten Ergebnisses, sondern um die Illusion, mit totaler Selbstkontrolle Herr über das eigene Schicksal werden zu können. Selbstermächtigung durch Selbstversklavung: Genau wie die Magersüchtige führt auch der Selbstvermesser einen Kampf gegen den eigenen Körper. Letztlich wirkt da die religiöse Vorstellung fort, der Weg zur Freiheit des Geistes führe über die Kasteiung des Fleisches. Nur dass die Sünde des 21. Jahrhunderts nicht mehr in sexueller Aktivität, sondern in zu fettem Essen und zu wenig Bewegung besteht. Als frommer Gläubiger nimmt sich der Selbstvermesser jede Möglichkeit zum Selbstbetrug. Die Datenbank ist sein Beichtstuhl, der Dienst an der Technik sein tägliches Gebet. «Selbst, selbst, selbst», lautet das Credo einer Religion ohne Gott, die den Einzelnen zum Schöpfer, zum Designer der eigenen Person erhebt. «Vermessen» ist nicht nur der Körper des Selbstquantifizierers, sondern auch der Anspruch, die totale Konzentration auf sich selbst müsse eines Tages zu Wohlbefinden führen. Egozentrik als Biozentrik.
    Im Grunde bräuchte es ja nicht weiter zu interessieren, was ein paar Technikfans mit ihrem Überschuss an Freizeit und Geld anfangen, wenn die Idee von Quantified Self nicht als extremer Auswuchs eines allgemeinen Trends zu deuten wäre. Es sind nicht nur die Selbstvermesser, es ist unsere ganze Gesellschaft, die zunehmend dem Glauben verfällt, physische Perfektion sei das «höchste Gut». Gedüngt wird dieser blühende Irrtum von einer gigantomanen Pharma-, Kosmetik- und Ernährungsindustrie, die ihre Selbstverbesserungspräparate an Mann und Frau bringen will. In der Werbung werden dazu körperbetonte Idealbilder entworfen. Einst behauptete ein altes Sprichwort, es komme auf die inneren Werte an, und damit waren nicht die Blut- und Leberwerte gemeint. Die Ablösung von moralischen Tugenden durch oberflächliche Begriffe wie Schönheit, Fitness, Jugend ist eine bedauernswerte Nebenwirkung des konsumgestützten Kapitalismus. Unser Wirtschaftssystem ist nun mal darauf angewiesen, dass wir permanent durch eine Mischung aus Leistung und Konsum nach Glück zu streben suchen.
    Entsprechend anfällig ist unsere Gesellschaft für die Annahme, das Wesentliche am Menschen sei der materielle Teil. Der messbare Mensch ist der vergleichbare und damit selektionsfähige Mensch. Auch wenn jeder Selbstvermesser diesen Gedanken empört von sich weisen würde: Es gab in Deutschland schon einmal eine Bewegung, die meinte, den Wert eines Menschen am Kopfumfang ablesen zu können. Die Selbstquantifizierer befinden sich auf dem Holzweg, wenn sie erklären, die Informationssammelei diene der Aufklärung im kantschen Sinn. Das Mündige an einem Bürger ist nicht der Körper, sondern der Geist. Die Verwandlung eines Lebewesens in Zahlenkolonnen macht den Menschen zum Objekt und läuft damit automatisch Gefahr, Fremdherrschaft zu begründen.

    Krank? Selber schuld!
    Schon jetzt freut sich das überforderte Gesundheitssystem darauf, Quantified Self sukzessive zu einer allgemeinen Verpflichtung zu erheben, um auf dieser Grundlage Versicherungsleistungen nach dem Selber-schuld-Prinzip zu verweigern. Wenn es einen optimalen Lebensstil gibt, der zum optimalen Körper führt, dann gibt es auch messbare Abweichungen, an die sich Belohnung und Strafe knüpfen lassen. Ob sie es wollen oder nicht – als Vorreiter in Sachen Körperwahn machen sich die Selbstvermesser zu Versuchskaninchen für das Konzept des Gesundheitsuntertanen. Sie entwickeln und testen Sensoren, die wir vielleicht eines Tages alle am Handgelenk tragen, um auf diese Weise am Bonus-Malus-System der Krankenkassen teilzunehmen. Schon heute können Versicherungen ihre Zahlungen zurückhalten, wenn es um die Verletzungen eines Extremsportlers oder Komplikationen nach einer Schönheitsoperation geht.
    Quantified Self verabschiedet sich von einer Vernunft, die zum Bestimmen des richtigen Lebens keinen Taschenrechner braucht.
    Die Verknüpfung von Krankheit und Schuld bedeutet nicht weniger als das Ende von persönlicher Freiheit und gesellschaftlicher Solidarität – zwei Werte, die das Fundament einer demokratischen Gesellschaft bilden. Wer glaubt, Gesundheit und Wohlbefinden könne man sich erarbeiten, indem man entlang von Normen alles «richtig» macht, der mag bald nicht mehr einsehen, warum er mit seinen Versicherungsbeiträgen für die Raucherlungen, Säuferlebern und verfetteten Herzen irgendwelcher undisziplinierter Hedonisten aufkommen soll. Der wird seine Sätze bald mit «Man muss doch nur» und «Ist es denn zu viel verlangt» beginnen. Wer meint, das Schicksal bezwungen zu haben, teilt die Welt in Gewinner und Versager ein und betrachtet körperliches oder seelisches Leid als Charakterschwäche.
    Diese Einstellung ist kein Akt der Emanzipation, weder vom Schicksal noch von einem bröckelnden Gesundheitssystem. Sie ist ein Rückschritt in der Geschichte des humanistischen Denkens. Quantified Self verabschiedet sich von einer Vernunft, die zum Bestimmen des richtigen Lebens keinen Taschenrechner braucht. Ein mündiger Mensch kann auf seine Fähigkeit vertrauen, das rechte Mass der Dinge ohne Messgeräte zu ermitteln. Selbstvermessung hingegen ist das Gegenteil von Selbstvertrauen. Im Wunsch, die eigene Existenz möglichst restlos zu beherrschen, drückt sich vor allem die Angst aus, als Individuum in der grossen, weiten Welt der schönen und schrecklichen Möglichkeiten verloren zu gehen. Wir sind alle fehlerhaft. Wir bestehen zum grossen Teil aus Schwächen. Der kleinste Zufall besitzt die Macht, uns zu vernichten. Das Sammeln von Informationen schützt nicht dagegen. Bei Tageslicht betrachtet, ist es nicht mehr als der Versuch, der eigenen Sterblichkeit nicht ins Auge zu blicken.

    Der totalitäre Körper
    Nichts spricht dagegen, den eigenen Körper und am besten auch Herz und Geist zum Besseren entwickeln zu wollen. Leider fällt es uns Menschen schwer, zu verstehen, dass das immer Bessere nicht im Extrem, sondern in der Balance zu suchen ist. «Nichts übertreiben», lautet ein recht verlässliches Rezept, das nicht zuletzt auch für das Streben nach Wohlbefinden gilt. Gesundheit kann eine Voraussetzung für das gute Leben, nicht aber Selbstzweck sein. Als Endziel aller menschlichen Bemühung entfaltet der Körper totalitäres Potenzial. Ein Staat, der seine Bürger zu dem verpflichtet, was sich ein Selbstvermesser freiwillig abverlangt, wäre tatsächlich eine Gesundheitsdiktatur. Es gilt dafür zu sorgen, dass der Freiheitsverzicht von Quantified Self ein legitimes Hobby bleibt. Und nicht heimlich zum gesellschaftlichen Konzept mutiert.
    Im August 2012 erscheint Juli Zehs neuer Roman «Nullzeit» bei Schöffling & Co.
    (Tages-Anzeiger: http://tagi.ch/19200678)

    Fitness-Tracker

    Neben den psychologischen Aspekten warne ich auch vor einer möglichen Fehlinterpretation der gesammelten Daten. Die meisten Menschen sind keine Experten für die Analyse ihrer eigenen Gesundheitsdaten. Falsche Schlussfolgerungen können die Folge sein. Auch die ethischen Implikationen der Technologie müssen thematisiert werden. Wenn Unternehmen wie Amazon ihre Mitarbeiter mit Wearables überwachen, stellt sich die Frage, ob diese Art von „Überwachungskapitalismus“ die Grenze zur Ausbeutung überschreitet.

    Fitness-Tracking hat also zwei Gesichter: Auf der einen Seite hilft es, mehr Bewegung in den Alltag zu integrieren, auf der anderen Seite birgt es Risiken für psychische Gesundheit und persönliche Freiheit.

    Weiterlesen über die Selbstoptimierungsbewegung >>>

    (Copyright beim Cartoonisten/Illustrator)

    Veröffentlicht am 06. Juni 2017
    Letzte Aktualisierung durch Thomas Walser:
    21. Januar 2025

  • Wie gesund lebe ich?

    Wie gesund lebe ich?

    Wir können zu grossen Teilen selbst bestimmen, ob wir gesund bleiben und wie wir altern!
    Was unterscheidet denn Menschen, die im Alter von 60 bis 80 zufrieden und gesund sind (Happy-Well) von den traurigen Kranken (Sad-Sick)
    (Studie: George E. Vaillant et. al.: Aging Well)

    Sieben Faktoren sind wichtig:
    Tabakabstinenz („wahrscheinlich der wichtigste Faktor!“),
    gesundes Gewicht / gesunde Ernährung,
    wenig Alkohol,
    regelmässige Bewegung,
    solide Liebesbeziehung
    ,
    erwachsener Umgang mit emotionalen Konflikten und Stress,
    lange und gute Ausbildung
    (sich ein Leben lang wundern!),
    nicht aber Geld/Vermögen
    und auch nicht die Gene!

    Eine Anleitung zur Überprüfung des Gesundheitsverhaltens

    Der Dalai Lama wurde gefragt, was ihn am meisten überrascht: „Der Mensch, denn er opfert seine Gesundheit, um Geld zu machen. Dann opfert er sein Geld, um seine Gesundheit wiederzuerlangen. Und dann ist er so ängstlich wegen der Zukunft, dass er die Gegenwart nicht geniesst. Das Resultat ist, dass er nicht in der Gegenwart lebt. Er lebt, als würde er nie sterben. Dann stirbt er und hat nie wirklich gelebt.“

    Verwandte Seiten: Salutogenese, Kohärenzgefühl, Das Leben wieder geniessen, Krebsheilung, Art of Aging (Wie kann ich gesund alt werden!), Entspannung/Meditation, Guter Sex/Gute Beziehung, Lebendigsein!
    Fragen, die zu Dir führen! Und noch mehr Fragen!

    Bereits in der hippokratischen Medizin der Antike glaubte man, dass jeder Mensch auf seine Weise krank wird. Damals war man überzeugt, dass Gesundheit stark mit der Lebensweise zusammenhängt.
    Man nahm an, dass der Mensch gesund bleibt, wenn er ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Ruhen und Arbeiten, Schlafen und Wachen, sowie einen ausgeglichenen Gefühlshaushalt wahrt. Es ging um ein Gleichgewicht, das der Körper stets neu herstellen muss. Schon in der Antike erkannte man den Zusammenhang zwischen Körper und Seele, zwischen Krankheit und psychosozialem Umfeld.
    Wir sollten Gesundheit als Grundbefähigung und innere Bewältigungsfähigkeit sehen. Gesundheit bedeutet dynamische Anpassung und Transformation, die es Menschen ermöglicht, auch unter widrigen Umständen lebenswichtige Ziele zu erreichen.
    Gesundheit also als Resilienz? Ich sehe das weniger statisch. Gesundheit ist nicht die Fähigkeit, zu einem ursprünglichen Zustand zurückzukehren. Der Mensch entwickelt sich immer weiter, er muss sich verändern. Gesundheit ist kein Zustand, sondern eine Ressource, die sich unter Belastungen zeigt. Es geht um Entwicklungs- und Bewältigungspotenzial.
    Betrachten wir die Trauer. Man kann nicht sagen: „Ich habe einen Verlust erlebt, jetzt muss ich Trauerarbeit leisten, und dann geht es mir wieder wie vorher. “ Es wird nie mehr wie vorher sein! Die Trauer verändert den Menschen, seine Lebensziele, sein Bewusstsein, sein Verhältnis zur Welt. Der Mensch entwickelt sich ständig weiter. Nur wenn der Trauernde seine Fähigkeit zur Entwicklung verliert, indem er sich zurückzieht und handlungsunfähig wird, verliert er seine Anpassungsfähigkeit und gerät in einen krankhaften Zustand.

    Ein Mensch kann also gesund sein, selbst wenn er nicht mehr wie früher funktioniert – solange er einen Umgang damit findet. Wenn wir Gesundheit fördern wollen, müssen wir die Menschen befähigen, mit den Schwankungen des Lebens zurechtzukommen und erfolgreich mit der Welt zu interagieren. Jeder Mensch hat grundsätzlich das Potenzial dazu.

    Lebe massvoll, lustvoll, natürlich und mit viel Bewegung

    Aus dem eben Gesagten kann man schliessen, dass Gewissenhaftigkeit (Selbstkontrolle, Pflichtbewusstsein…) eine der wichtigsten Faktoren zur Erlangung von Gesundheit ist. Neben dem, dass gewissenhafte Menschen weniger rauchen und Alkohol trinken und massvoller essen, gelingt es ihnen, sich bessere Lebensbedingungen zu erarbeiten. Wer schon in der Kindheit selbst-diszipliniert zu Werke geht, bekommt eher gute Noten, schafft eher eine anspruchsvolle Ausbildung und wohnt in einer gesünderen Umgebung.
    Die Selbstkontrolle und – damit zusammenhängend – „Alles mit Mass!“ ist also der wahre Glücklich-Macher. Selbstkontrolle macht Kinder im späteren Leben stark. Leute mit viel Selbstkontrolle führen im Schnitt bessere und längere Beziehungen als Menschen, die sich weniger im Griff haben. Sie werden mehr gemocht und anerkannt. Sie sind weniger gestresst, fühlen sich weniger schuldig, können sich besser an neue Situationen anpassen und sind weniger beratungsresistent. Sie begehen auch weniger Verbrechen. Sie überwinden sogar Vorurteile besser. Und, nach all dem, nicht überraschend: Sie leben länger.(Roy Baumeister: Die Macht der Disziplin. Campusverlag, 2012)

    Alles schön und gut: Aber eine Überdosis Disziplin ist nicht mehr gesund

    Siehe dazu auch mein Blogbeitrag über Cortisol bei zu starker Disziplin!
    Wichtig ist der Wechsel von Spannung und Entspannung, von Kontakt und Rückzug, von Selbstkontrolle und Genuss! Eine eigentliche Rhythmisierung unseres Lebens. Es gibt also auch die Rückseite der Medaille durch eigentliche „Selbstknechtung“, was in Stress, Depression und Burnout enden kann. Deutungshilfe bietet der deutsche Philosoph Byung-Chul Han. Laut Han hat sich der Westen von einer Kontroll- in eine Leistungsgesellschaft umorganisiert (siehe dazu den spannenden Bericht aus dem Tages-Anzeiger).

    Dazu passt, dass grosse Studien bei Ausdauersportarten zeigen, dass ein Wechsel von kurzen, sehr intensiven Trainingseinheiten und längeren langsame, ja bedächtige Einheiten für die Gesundheit optimal ist. >>> strukturelleintegration.info/2017/06/02/ausdauer/).
    Zudem ist für die Gesundheit – und wir sprechen hier nicht über die Ausdauer – die Häufigkeit der Bewegung wichtiger als die Intensität oder die Dauer! „Mässig, regelmässig“ ist also die Devise.

    Zudem wird immer mehr klar, dass Selbstkontrolle und Disziplin beim Gesundheitsverhalten zu eng gesehen wurden. In vielen Studien zeigte sich, dass Selbstkontrollierte zwar mehr Sport treiben, gesünder essen, sich weniger von der Arbeit abhalten lassen und bessere Leistungen erzielen – aber nur, sofern sie feste Gewohnheiten haben! Sie essen fast täglich zur gleichen Zeit, treiben Sport zu festen Zeiten und gehen fast täglich immer zur gleichen Zeit schlafen. Leute mit hoher Selbstkontrolle strukturieren ihr Leben so, dass sie gar nicht erst in Not kommen, sie anwenden zu müssen.

    Willenskraft? Selbstkontrolle? Nein: Gewohnheiten

    Wir überschätzen uns und unsere Willenskraft und unsere Selbstkontrolle. Wir glauben, wenn wir uns nur am Riemen reissen, könnten wir jederzeit unser Verhalten steuern und unsere Ziele erreichen. Das stimmt aber leider nicht.

    Kurzum: Unerwünschtes Verhalten zu unterdrücken, nützt mal wieder sehr wenig. Und: Was man nicht gerne macht, sollte man automatisieren!

    Zur Selbstoptimierung noch mehr hier unten!

    Gesund zu leben, zahlt sich aus

    Eine gesunde Lebensweise senkt das Risiko für chronische Krankheiten noch deutlicher als bislang vermutet:

    Wer noch nie geraucht hat, viel Obst, Gemüse und dafür wenig Fleisch isst, kein massives Übergewicht hat und sich pro Woche mehr als drei Stunden bewegt, reduziert im Vergleich zu Menschen mit gegenteiligem Verhalten sein Erkrankungsrisiko um 80 Prozent. (Langzeitstudie des Deutschen Instituts für Ernährungsforschung mit mehr als 25’000 Teilnehmern, 2009).
    Im Einzelnen sinken bei einer derart bewussten Lebensweise das Diabetes-Risiko um 93 Prozent und die Gefahr eines Herzinfarkts um 81 Prozent. Die Wahrscheinlichkeit, einen Schlaganfall zu erleiden, vermindert sich immer noch um die Hälfte und das Krebsrisiko um 36 Prozent.
    Wer einen BMI unter 30 aufweist, vermindert allein dadurch sein Risiko für chronische Krankheiten um mehr als die Hälfte. Wer darüber hinaus auch in seinem Leben noch nie geraucht hat, senkt die Gefahr, chronisch zu erkranken, sogar um 70 Prozent. Aber auch Raucher und Ex-Raucher können ihr Risiko durch eine gesunde Ernährung, ausreichend Bewegung und ein normales Körpergewicht um bis zu 70 Prozent senken.

    Eigene Einschätzung Ihres Gesundheitsverhaltens

    Sie finden hier eine Sammlung von Aspekten, die Sie anregt, über Ihr Verhalten und Ihre Lebensführung nachzudenken.

    Gefühle und Gedanken | Kreativität | Entspannung/Schlaf | Erholung im Urlaub | körperliche Aktivität | körperliche Fürsorge | Ernährung | Produktivität/Arbeit | Wohnen | Beziehung | Umweltbewusstsein | soziales Interesse | Lebenszufriedenheit | speziell für Männer | speziell für Lehrer/Betriebsleiter/Politikerspeziell für Kinder

    1. Wahrnehmen und Ausdrücken von Gefühlen und Gedanken

    • Zuerst einmal ist mir klar, dass meine Gedanken meine Gefühle beeinflussen und somit massgeblich mein Verhalten, wenn ich es zulasse.
    • Gedanken sind erst einmal nur Gedanken und keine Fakten! Nicht was wir denken ist das Problem, sondern wie wir unsere Gedanken beurteilen.
    • Kann ich wahrnehmen, welche Gedanken und Gefühle mir gut tun – und kann ich dann bewusst wählen, diese zuzulassen.
    • Was ist meine Strategie, wenn ich mich schlecht fühle?
    • Meist ist mir bewusst, was ich gerade fühle und empfinde.
    • Wenn ich mit etwas nicht einverstanden bin, kann ich dies ausdrücken.
    • Ich fühle mich frei, anderen meine Gefühle mitzuteilen.
    • Für mich ist es in Ordnung, sowohl heiter und fröhlich als auch ängstlich, traurig und ärgerlich zu sein.
    • Ich kann anderen verständlich machen, was ich empfinde.
    • Es beunruhigt mich nicht, wenn ich manchmal auch heftige Gefühle habe.
    • Ich freue mich über Zuwendung, Anerkennung und Lob von anderen.
    • Wenn ich traurig bin, gestatte ich es mir, zu weinen.
    • Ich nehme es wahr, wenn andere bedrückt sind.
    • Meine Ansichten und Interessen kann ich auch Menschen gegenüber vertreten, die sehr sicher auftreten.
    • Ich kann Sexualität und Intimität geniessen.
    • Ich kann freundlich zu Mitmenschen sein – auch geben/schenken ohne eine Gegenleistung zu erwarten, einfach so (zu Kindness hier weiterlesen).
    • Wenn ich Hilfe brauche, suche ich sie bei Freunden oder Fachleuten.
    • Für mich haben Gefühle eine Bedeutung, auch wenn sie mich manchmal daran hindern, die Dinge „nüchtern“ zu betrachten.
    • Wenn ich ärgerlich oder zornig bin, fresse ich das nicht in mich hinein, sondern drücke meine Gefühle aus. Dies kann auch bedeuten, dass ich in mich gehe und erkenne, aus welchen Glaubenssätzen und Kernüberzeugungen diese Gefühle kommen.
    • Ich weiche Auseinandersetzungen nicht „um des Friedens willen“ aus.
    • Ich kann mich in schwierigen Lebenssituationen nachsichtig behandeln.

    2. Kreativität und Ausdrucksfähigkeit

    • Ich habe Freude daran, mich durch Kunst, Tanz, Musik, Theaterspielen, usw. auszudrücken.
    • Ich habe Freude daran, täglich einige Zeit ohne Planung oder Strukturierung zu verbringen. Auch das mobile Internet ist dann nicht verfügbar (Smartphones, Tablets…)!
    • Ich habe oft Ideen und Einfälle, die aus mir selber kommen, in denen ich nichts nachahme.
    • Es macht mir Spass, mich manchmal mit ungewöhnlichen Ideen zu beschäftigen und sie mit anderen auszutauschen.
    • Ich interessiere mich für meine Träume und für das, was sie mir sagen.

    3. Entspannung, Schlaf

    • Ich fühle mich selten müde oder ausgelaugt (ausser nach einer anstrengenden Arbeit – und vor dem Bettgehen).
    • Ich schlafe nachts leicht ein (in 10 bis 15 Minuten).
    • Ich bekomme meist genug Schlaf, d.h. morgens steh ich gut auf und bin vormittags nicht müde.
    • Wenn ich aufgeweckt werde, fällt es mir meistens leicht, wieder einzuschlafen.
      Es gibt Zeiten, in denen ich gerne allein sein mag.
    • Wenn es keine Möglichkeit gibt, Probleme sofort zu lösen, kann ich sie auch ruhen lassen.
    • Mindestens 15 bis 20 Minuten täglich meditiere ich oder versuche, mich zu zentrieren.
    • Ich verwöhne mich (ohne mich dafür schuldig zu fühlen), zum Beispiel durch Massagen, Nichtstun.
    • In meinem Alltag pflege ich ein Gleichgewicht zwischen Kontakt und Rückzug. Dabei meint Rückzug: Entspannung, Nichts-Tun und keine Füll-Aktivitäten, wie Blick in mein Smartphone,…
    • Hierzu: Beherrsche ich das Internet (v.a. Social Medias) oder beherrscht es mich? Weiterlesen zu Digital-Detox… und wie fehlende Achtsamkeit unsere Gedächtnisleistung schmälert.
    • Damit zusammenhängend, arbeite ich auch nur 30 bis 40 Stunden pro Woche und benötige deshalb weniger Geld für Konsum und Luxus (Mehr dazu hier in diesem Blog!).
    • Im Winter schlafe ich etwas mehr und im Sommer weniger – und richte meinen Arbeitstag demgemäss ein: Mehr hier: www.dr-walser.ch/saisongerecht-leben/

    Mehr zu Entspannungsmethoden/Meditation hier >>> www.dr-walser.ch/entspannung/

    4. Erholung im Urlaub

    • Ehe ich eine Auszeit oder einen Urlaub plane, frage ich mich, wovon ich mich erhole. Grundsätzlich gilt: Kontrasterfahrungen sind wichtig! Wenn Du ständig in der Öffentlichkeit stehen und mit vielen wechselnden Menschen in Kontakt bist, brauchst Du Zeiten, in denen Du dich von der Welt zurückziehen und mal allein sein kannst. Wer in einem sozialen Beruf tätig ist, ständig für andere da ist, steht nach Möglichkeit in Urlaubszeiten selbst im Mittelpunkt und lässt sich „bedienen“. Wer ständig freundlich zu Kunden sein muss, sucht seine Erholung wohl besser nicht in Gruppen.
      Fernreisen mit Zeitverschiebung bringen Anregung. Erholung bieten sie schon allein deshalb wenig, weil der Körper einige Tage benötigt, um sich an die Zeitverschiebung zu gewöhnen. Ich plane dafür genügend Zeit ein.
    • Ich mache mehrere, gut übers Jahr verteilte Urlaubstage, da sie sinnvoller sind als der grosse mehrwöchige Urlaub am Stück.
    • Ich habe nicht zu grosse Erwartungen an den Urlaub. Es ist mir bewusst, dass der Erholungseffekt nach den Ferien nicht lange anhält. Spätestens nach vier Wochen ist er verschwunden.
    • Es ist mir auch bewusst, dass „faul sein“ erlaubt ist. Die Balance zwischen Entspannung und Bewegung ist wichtig. Durch sportliche Betätigung werden Spannungen abgebaut und man erlebt sich als kompetent. Dies ist eine gute Voraussetzung für die Regeneration. Nicht nur im Urlaub die Joggingschuhe anziehen oder den Tennisschläger schwingen. Die beste Erholung garantiert die regelmässige, in den Alltag integrierte Bewegung.
    • Ich kann im Urlaub schnell von der Arbeit abschalten und die Arbeit gedanklich hinter mich lassen. Ich kann Abstand gewinnen und mich innerlich freimachen.
    • Ich mache im Urlaub auch Mastery-Erfahrungen, also körperliche oder intellektuelle Herausforderungen, wie einen Berg besteigen, eine Fremdsprache lernen oder einen See durchschwimmen.
    • Ich kann in meiner Freizeit frei wählen, wann und wie ich etwas mache, das mir Freude bereitet.

    Mehr zu Entspannungsmethoden hier >>> www.dr-walser.ch/entspannung/

    5. Körperliche Aktivität

    • Ich habe in den letzten zwei Jahren sportlich etwas Neues gelernt oder begonnen.
    • Ich steige häufig Treppen, statt den Lift zu benutzen.
    • Meine täglichen Aktivitäten schliessen mittlere Anstrengungen ein (z.B. Betreuung kleiner Kinder, Arbeiten im Haushalt, Gartenpflege, Fusswege während der Arbeit…).
    • Meine täglichen Aktivitäten enthalten zeitweise auch schwere körperliche Arbeiten (z.B. Transport, Tragen schwerer Objekte, landwirtschaftliche Arbeit …).
    • Ich gehe täglich mindestens zwei Kilometer zu Fuss. Dies ist auch in kleineren Etappen mehrmals täglich möglich.
    • Mindestens dreimal pro Woche laufe ich 20 Minuten in mässiger und mittlerer Belastung (mehr).
    • Mindestens einmal pro Woche mache ich 15 bis 20 Minuten lang Yoga (oder andere Dehn-, Streck- oder Entspannungsübungen).
    • Ich mache fast täglich etwas Gymnastik.
    • Ich dusche regelmässig, erst warm, dann kurz kalt.
    • Ich gehe ein- oder zweimal im Monat in die Sauna.
    • Häufig geniesse ich sexuelle Aktivitäten mit mir oder anderen.

    6. Körperliche Fürsorge

    • Ich rauche nicht! (= die wohl wichtigste Gesundheitsmassnahme überhaupt!)
    • Ich reinige meine Zähne regelmässig (mindestens zweimal pro Tag und einmal länger und mit (Interdentalbürstchen).
    • Ich sorge dafür, dass ich mich so wenig wie möglich Abgase, chemische Dämpfe und Lärm aussetze.
    • Ich nehme Änderungen in meinem körperlichen, seelischen und geistigen Befinden bewusst wahr und suche fachliche Hilfe bei auffälligen Änderungen.
    • Ich nehme sehr selten Medikamente oder Drogen. Ich trinke auch nicht jeden Tag Alkohol.
    • Ich sorge dafür, dass ich regelmässig ausreichend Schlaf bekomme.
    • Ich mag die Berührung durch andere.
    • Ich mag andere Menschen berühren, wenn ich das Bedürfnis dazu habe.
    • Ich „trainiere“ mein Gehirn (und für „Gehirnjogging“ genügt nicht das Lösen von Kreuzworträtsel oder Sudoka!)  mit Musizieren, Tanzen, Meditieren, Lernen von Fremdsprachen, Beschäftigung mit philosophischen Themen, Umgang mit Kindern!
    • Ich probiere täglich draussen etwas „Sonne zu tanken“ (siehe hier über den „Segen der Sonne“)

    7. Ernährung

    • Der grösste Teil meiner Nahrung ist pflanzlichen Ursprungs: Obst, Gemüse, Salate, Hülsenfrüchte, Vollkornprodukte, Nüsse (davon 1 Handvoll pro Tag) und Früchte (etwa 2 Handvoll Obst täglich).
    • Rohe, ungekochte Nahrung ist nicht die Ausnahme, sondern fester Bestandteil meiner Ernährung.
    • Fleisch esse ich höchstens ein- bis zweimal die Woche und achte auf Weidefleisch.
    • Ich vermeide soweit wie möglich tierische Fette und ersetze sie durch pflanzliche (hochwertige Öle sind Oliven-, Lein- und Rapsöl).
    • Ich esse selten raffinierte Nahrung und achte auf Esswaren im vollwertigen Naturzustand.
    • Ich bevorzuge Nahrung ohne chemische Zusätze und achte beim Einkaufen auf die Kennzeichnung von Zusätzen. Als Regel kann gelten, dass ich Esswaren einkaufe, die auch meine Urgrossmutter als Essen erkannt hätte.
    • Ich trinke mindestens 1,5 bis 2 Liter Flüssigkeit täglich.
    • Ich trinke weniger als sechs Tassen Kaffee pro Tag.
    • Mein Alkoholkonsum ist niedrig (nicht mehr als ein halber Liter Bier oder ein viertel Liter Wein pro Tag). – mit vielen alkoholfreien Tagen.
    • Mein Appetit ist gut (weder zu gering noch zu gross).
    • Mein Körpergewicht ist normal („normal“, was ist das?!).
    • Ich nehme mir Zeit und Ruhe für meine Mahlzeiten und kaue jeden Bissen ausgiebig. Das Smartphone ist während des Essens nicht auf dem Tisch!
    • Ich kann das Essen ohne Schuld- und Reuegefühle lustvoll geniessen.
    • Ich mache auch Unterschiede zwischen dem Winter und dem Sommer, indem ich meine Ernährung etwas meinem unterschiedlichen Verhalten anpasse (Mehr dazu hier: www.dr-walser.ch/saisongerecht-leben/)
      (Lesen Sie auch dies zum Essen!)

    8. Produktivität, Arbeit

    • Finanziell fühle ich mich sicher.
    • Das Einkommen entspricht meiner Leistung.
    • Ich habe wenig Angst um meine berufliche Zukunft.
    • Mir macht meine Tätigkeit mehrheitlich Spass. Teils bin ich auch im wirklichen Flow.
    • Mein Beruf ist meine „Berufung“, d.h. ich kann dabei mindestens die drei wichtigsten Charakterstärken brauchen (siehe Test dazu hier: charakterstaerken.org).
    • Ich fühle mich selten in unangemessener Weise bewertet und kontrolliert.
    • Ich arbeite gern mit meinen KollegInnen zusammen.
    • Ich verrichte meine Arbeit in einer angenehmen Umgebung.
    • Mein Arbeitsplatz gefährdet mich nicht (z.B. durch Chemikalien, giftige Gase, Strahlen, Staub, schlechte Luft, extreme Temperaturen, Lärm, ungesicherte Maschinen, grosse Unfallgefahr).
    • Mein Pendelweg zur Arbeit ist kurz – und ich kann (mindestens einen grossen Teil davon) zu Fuss gehen.
    • Ich fühle mich selten unter Zeitdruck oder gehetzt.
    • Ich fühle mich selten überfordert.
    • Ich fühle mich selten unterfordert.
    • In meiner Arbeit existieren Qualifizierungsangebote. Ich kann bei meiner Arbeit etwas lernen.
    • Ich kann im Betrieb aufsteigen.
    • Wenn ich Spannungen mit Vorgesetzten, Kollegen, Untergebenen habe, finden wir meist Lösungsmöglichkeiten.
    • Ich kann meine Arbeit in gewissem Umfang selbst einteilen.
    • Ich habe genügend Pausen während der Arbeit.
    • Ich empfinde meine Arbeit als sinnvoll und anregend. Meine Arbeit ist auch nützlich für die Gesellschaft.
    • Ich arbeite maximal 45 Stunden pro Woche (mehr dazu hier in diesem Blog!).
    • Ich arbeite im Winter (späterer Arbeitsbeginn) etwas weniger als im Sommer (Mehr hier: www.dr-walser.ch/saisongerecht-leben/).

    zum Thema „Zeit vs. Geld/Arbeit“: >>> walserblog.ch/2017/02/17/zeit-vs-geld/
    und hier „Wie viel Lebenszeit kostet mir mein Konsum?“ hier in diesem Blog!

    Zur Arbeit noch der Philosoph Byung-Chul Han: „Es ist vielleicht an der Zeit, über eine Lebensform nachzudenken, in der die Arbeit keine Rolle mehr spielt. Der altchinesische Denker Zhuangzi würde sie „Wandern in Musse“ nennen.“

    9. Wohnen

    • Ich bin mit meiner Wohnsituation zufrieden.
    • Ich fühle mich in meiner Wohnung zu Hause.
    • Ich habe das richtige Ausmass von Kontakt zu Mitbewohnern, Nachbarn.
    • Ich mag die Strasse und die Umgebung, in der ich wohne.
    • Sind meine Nachbarn glückliche Menschen oder wohnen meine Freunde in meiner Nähe? (Die Wahrscheinlichkeit, ebenfalls glücklich zu werden, steigt dank einer zufriedenen Nachbarschaft gemäss eine Studie im British Medical Journal um 35 Prozent).
    • Die Wohnbedingungen (Grösse der Wohnung, Grünflächen, frische Luft, ruhige Lage, Geschäfte, Anregungen) sind genau richtig für mich.
    • Ich wohne nicht zu weit von meinem Arbeitsort weg (kurze Pendelzeit!).
    • Die Landesgegend (und auch das Land) in dem ich wohne gefällt mir.

    10. Beziehung

    • Ich liebe und habe zärtliche Gefühle zum Menschen mit dem ich zusammenlebe.
    • Ich habe Mitgefühl zu anderen und…  zu mir selbst.
    • Mein Lebenspartner ist glücklich und zufrieden. Gemäss Studien ist dies genau so wichtig, wie das eigene Glück und fördert meine eigene Gesundheit – unabhängig davon, wie glücklich ich selbst bin!
    • Mit meinem Partner trage ich Krisen und Konflikt offen und fair aus.
    • Wir sind zueinander selten sarkastisch, zynisch, versteckt und indirekt aggressiv, schroff zurückweisend oder anderweitig scheusslich.
    • Ich und mein Partner können sich das Gefühl geben, den anderen zu verstehen und zu unterstützen. Unsere Beziehung ist auch „Anerkennen von Unterschieden“. Um dieses Unterschiedliche meines Partners zu Erforschen, sind Fragen (offene und zirkuläre!) sehr wichtig.
    • Positive Gefühle wie Lob und Wertschätzung können wir uns gut mitteilen.
    • Negative Gefühle wie Wut und Ärger können ich und mein Partner angemessen äussern.
    • Mein Lebenspartner traut mir persönliche Entwicklungsschritte zu, bekräftigt mich auf dem angestrebten Weg, fordert zu Handlungen heraus und geht auf mich ein.
    • Mein sexuelles Leben ist reich, kreativ und befriedigt mich (>>> sex/)
    • Ich bin gewissenhaft, offen für Neues/ Erfahrungen und auch „sozial verträglich“ (ein netter Mensch…).
      Lesen Sie mehr über diese drei Persönlichkeitsmerkmale, die für die Chancen einer lang dauernden Beziehung wichtig sind: >>> walserblog.ch/2015/02/14/gewissenhaft-macht-gesund
    • Pflegen Sie auch gute (weitere) Freundschaften? Haben Sie einen Freund*in, dem Sie anvertrauen würden, dass Sie fremd gegangen sind, dass Sie drei Millionen im Lotto gewonnen haben oder dass die eigene Mutter Alkoholikerin war?
    • Reservieren Sie einen Abend in der Woche diesen Freundschaften – so wie man ja auch regelmässig schwimmen, joggen oder ins Fitnessstudio geht?
    • Man benötigt eine gewisse Selbstachtung und Selbstliebe um offen zu sein für Freundschaften mit anderen. Besitzen Sie dies?
    • Können Sie sich darauf einigen, wie Sie Ihre Zeit aufteilen – allein, gemeinsam, mit Freunden und Familie, bei der Arbeit?
    • Sind Ihre Tages- und Wochenrhythmen, Ihr Tempo, Ihre Perspektiven auf die Lebenszeit und Ihre Einstellung zur Pünktlichkeit ähnlich oder ergänzen sie sich so, dass Sie die gemeinsame Zeit geniessen und die Herausforderungen des Lebens meistern können?

    11. Umweltbewusstsein

    • Ich konsumiere so wenig wie möglich! („Wie viel Lebenszeit kostet mir mein Konsum?“ hier in diesem Blog!).
    • Ich versuche, die Verschwendung von Energie sowohl zu Hause als auch im beruflichen Bereich zu vermeiden.
    • Mir ist bewusst, dass die Regenwälder im Amazonas abgeholzt und verbrannt werden, da dort Rinder weiden werden, die v.a. wir in Europa (und China) essen. Zudem wird das Soja und Mais, das dort angebaut wird in grossen Mengen zu uns exportiert (für Futter unserer Tiere)!
      Weniger Fleisch essen zeugt also auch von Umweltbewusstsein.
      Ebenfalls bevorzugen von saisonalen und regionalen Esswaren.
      Ich werfe möglichst wenig Essen weg!
    • Ich benutze ungiftige, abbaubare Reinigungsmittel.
    • Ich benutze soweit wie möglich öffentliche Verkehrsmittel – oder gehe zu Fuss oder mit dem Fahrrad.
    • Ich sorge für die Weiterverwendung von Flaschen, Papier, Kleidung, organischem Abfall.
    • Ich fliege so wenig wie möglich in die Ferien. Ich mache dabei auch keine sehr langen Autofahrten.
    (mit Erlaubnis und Copyright von Psychologie Heute)

    .

    12. Soziales Interesse

    • Ich informiere mich über lokale, nationale und internationale Ereignisse.
    • Ich habe Interesse an gesellschaftlichen Problemen und unterstütze Ziele, Personen, Gruppen meiner Wahl.
    • Wenn es mir möglich ist, gebe ich Zeit und Geld für Ziele aus, die mir wichtig sind.
    • Kenne ich meine Werte, was mir wichtig ist im Leben und Zusammenleben. Dazu ist gut, meine drei wichtigsten Charakterstärken zu kennen und sie zu leben (siehe Test dazu hier: charakterstaerken.org).
      Daraus ergeben sich drei weitere Fragen:
    • Was ist mir persönlich wichtig?
    • Wofür möchte ich stehen?
    • Wofür möchte ich „bekannt sein“?
      .
    • Wenn ich Auto fahre, nehme ich Rücksicht auf Fussgänger und andere Mitbenützer der Strasse.
    • Ich bin Mitglied einer oder mehrerer Gruppen (Club, soziale/politische Organisation, Musikband …).
    • Ich versuche gemeinsam mit KollegInnen unsere Interessen am Arbeitsplatz zu vertreten.
    • Ich gebe im Leben mehr als ich nehme (u.a. Spenden,…).

    13. Einstellung zum Leben, Lebenszufriedenheit

    • Mein persönliches Dasein erscheint mir sinnvoll.
    • Mein tägliches Leben ist oft voll Freude und Befriedigung (Blogbeitrag dazu!).
    • Ich bleibe mir selbst treu.
    • Ich habe eine Ahnung, was „Selbstfürsorge“ für mich bedeutet und ich probiere dies zu leben. Selbstfürsorge basiert auf drei Säulen: Achtsamkeit, Selbstdisziplin (= Empathie für sich selbst – in der Zukunft!), Abgrenzung.
    • Ich lebe präsent und bewusst im Augenblick.
    • Ich lebe so, dass ich später nichts zu bereuen habe.
    • Wenn ich an den Tod denke, dann fühle ich mich vorbereitet und ohne Angst.
    • Wenn ich heute sterben würde, dann hätte ich das Gefühl, dass mein Leben einen Wert hatte.
    • Auch die schweren Zeiten in meinem Leben haben für mich Bedeutung und ihren Sinn.
    • Die Art, wie ich Menschen, die Welt und meine Existenz sehe, gibt mir Kraft.
    • Ich habe Vertrauen in die Zukunft.
    • Ich vertraue meinen Mitmenschen zuerst meist (und ein Misstrauen ist sicher nicht primär). Siehe mein Blogbeitrag dazu.
    • Auch wenn manche Situationen schwierig sind, macht es mir Freude zu leben.
    • Veränderungen in meinem Leben machen mir keine Angst.
    • Lebe ich „authentisch“?
    (mit Erlaubnis und Copyright von Psychologie Heute: www.psychologie-heute.de)

    .

    14. Spezielle Fragen an den Mann

    • Wie gesund bzw. ungesund verhalte ich mich? Inwiefern/wo wirkt sich mein Verhalten schädlich oder fördernd auf meine Gesundheit aus (Stichworte: Rauchen, Alkohol, Safer-Sex/Sexsucht, Verkehrsverhalten, Dickleibigkeit, Arbeitssucht, Machtsucht, Brutalität)?
    • Wie nehme ich mich selber wahr?
    • Wie kann ich sorgfältiger mit mir selber umgehen?
    • Kann ich auch Unvollkommenheiten in mein Leben integrieren?
    • Bin ich auf äussere Werte wie Geld, Erfolg, Status und Statussymbole fixiert?
    • Wie verhält es sich mit meinen Grenzüberschreitungen und Kontrollverlusten?
    • Wie bin ich in Kontakt mit meiner wilden, gefährlichen Seite? Und bin ich dort gleichzeitig auch achtsam? Achtsam mir gegenüber und beachte ich an meinen Grenzen auch diejenigen meiner Mitmenschen?
    • Liefere ich häufig ungebetene Erklärungen und Ratschläge (Mansplaining)?
    • Oder Victim Blaming: angesichts männlicher Übergriffigkeit erst einmal über das Verhalten der Frau zu sprechen?
    • Wie erlerne ich konstruktive Formen von Aggressivität und Durchsetzungsvermögen und wie fördere ich deren Verbreitung?
    • Wie funktionieren meine Beziehungsmuster?
    • Wie pflege ich Männerfreundschaften?
    • Wie fördere ich Solidarität unter Männern?
    • Wie integriere ich neben dem Berufs-Mann den Ehe-Mann und Vater gleichwertig in mein Leben?
    • Wie pflege ich meine „Eigenwelt“ neben den Bereichen der Arbeit und der Familien- oder Beziehungswelt?
    • Wie trage ich dazu bei, mehr Gemeinschaftssinn zu entwickeln?
    • Kann ich mich im Spannungsfeld zwischen instrumentaler und ganzheitlicher Vernunft für Gesundheitsförderung und Lebensqualität entscheiden, auch wenn ich dabei scheinbar persönliche Karrierenachteile in Kauf nehme?
    • Wie weit treibe ich den Individualismus? Engagiere ich mich v.a. zur Erfüllung meiner Macht- und/oder Selbstbestätigungsgelüste?

    Die Zehn Gebote als Krisenprophylaxe für den Mann
    und über die Schwäche des »starken Geschlechts«: Warum Männer früher sterben als Frauen: Neueste Daten und Vermutungen zu einer alten Frage
    und sexuelle Gewalt gegen Männer und wie toxische Gendernormen verhindern, das die Männer deshalb keine oder sehr späte Hilfe holen!

    Mehr zur Männergesundheit auch hier: www.gesunde-maenner.ch

    15. Spezielle Fragen für die LehrerIn/BetriebsleiterIn/PolitikerIn

    SCHULE
    Die Gesundheitsförderung in der Schule koppelt man am besten von Verhaltenskontrolle ab, da sie dann nur Widerstand hervorruft. Wie kann ich Schüler dazu bringen, mehr Früchte und Wasser zu konsumieren, weniger zu rauchen und sich mehr zu bewegen – ohne, dass das Ganze mit Verboten, Strafen und Kontrolle verbunden ist?
    Also: Nicht a priori Alkohol und Tabak usw. verdammen, sondern eine gemeinsame Diskussion darüber entfachen – auch zum Thema ambivalente Einstellung gegenüber dem Thema Gesundheit.
    Kann ich eine echte Partizipation zulassen, sprich: Befragung der Schülerinnen und Schüler, welche Gesundheitsprobleme sie wahrnehmen und was sie ändern wollen und wo sie Ansatzpunkte der Änderungen sehen?

    Dann immer emotionale Kompetenz stärken! Fünf Kriterien sind hier wichtig: Wissen und Denken über Emotionen, das Erkennen und der Ausdruck von Gefühlen, die Emotionsregulation sowie Empathie. Die Vermittlung der Emotionsregulation ist laut vielen Autoren dabei die wichtigste  pädagogische Aufgabe, wenn es um Gefühle geht. Vor allem in den Lehrplänen für naturwissenschaftliche Fächer, Informationstechnologie oder Wirtschaft gibt es bisher leider nur sehr wenige Bezüge auf emotionale Kompetenzen.

    BETRIEB
    Werden Arbeitsanalysen durchgeführt?
    Wird die Ergonomie der Arbeitsplätze überprüft?
    Werden toxische Belastungen ermittelt?
    Wird Gesundheitsberichterstattung durchgeführt, um zu ermitteln, in welchen Abteilungen welche Erkrankungen in welcher Häufigkeit auftreten?
    Werden Gesundheitszirkel implementiert, um herauszufinden, wie die Arbeitnehmer welche Gesundheitsprobleme wahrnehmen und welche Lösungen es hierfür gibt?
    Werden Arbeitsplätze geschaffen, die mit Gesundheitsförderungsexpertinnen besetzt werden?

    GEMEINDE
    Es lautet die wichtigste politische und alltägliche Entscheidung heute wohl: Trägt man selbst mehr zum kittenden Vertrauen oder eher zum spaltenden Misstrauen der Gesellschaft bei?
    Werden sichere Radwege geschaffen?
    Werden Planung und Realisierung von Naherholungsgebieten, in denen zum Beispiel gejoggt werden kann, gefördert?
    Gibt es Innenstädte, in denen der Autoverkehr eingeschränkt ist?
    Wird etwas zur Senkung der Lärmbelastung und zur Verbesserung der Luftqualität realisiert?
    Wird der bürgerliche Gemeinsinn aktiviert, das heisst, dass Bürgerinnen gemeinsam ihre Gemeinde gesundheitsförderlicher gestalten (auch Stärkung nachbarschaftlicher Bindungen, Pflege von Vereinen…)?

    16. Spezielle Fragen an Ihr Kind

    Passung:
    Beispiel: Ein Kind ist kognitiv durchschnittlich bis vielleicht etwas unterdurchschnittlich begabt. Die Eltern haben aber Erwartungen, dass es in der Schule gute Noten erziele, damit es später mehr Möglichkeiten im Leben hat. Das Kind ist aber nicht in der Lage, diese kognitive Leistung zu erbringen. Und da kommt es zu einer fehlenden Passung, weil das Kind unseren Erwartungen nicht gerecht werden kann. Das führt dazu, dass das Kind ein eingeschränktes Wohlbefinden entwickelt, dass es ihm auf lange Sicht nicht gut geht – obwohl die Eltern das Beste für es wollen. Eltern sollen die Interessen der Kinder unterstützend aufnehmen und Impulse geben – die Stärken ihrer Kinder fördern und die Schwächen akzeptieren und versuchen, mit ihnen so umzugehen, dass es zu ihrem jeweiligen Entwicklungsstand passt.
    Es
    läuft in der Kindheit meist auf die „Vier V“ heraus:
    Sei vertraut, verlässlich, verfügbar, liebevoll. Das sind vier Bedingungen, die wichtig sind und die Bezugspersonen den Kindern gegenüber erfüllen sollen. Und das ist auch für eine gute Entwicklung förderlich. Mehr braucht es nicht.

    Und noch speziell zum Umgang mit dem Internet:
    In Kanada gibt es eine Initiative («The Canadian 24-Hour Movement Guidelines for Children and Youth»), die empfiehlt, dass Kinder und Jugendliche folgende drei Dinge beachten sollten:

    • 60 Minuten pro Tag körperliche Aktivität,
    • weniger als zwei Stunden pro Tag vor einem Bildschirm (TV, PC, Smartphone etc.) und
    • Schlafdauer zwischen 9 und 11 Stunden.

    In den USA halten nur gerade 5% aller Kinder und Jugendlichen (9–11 Jahre) diese Empfehlungen laut einer aktuellen Studie auch ein. Die mittlere Bildschirmzeit betrug in der Studie 3,6 Stunden pro Tag. Eine deutliche Reduktion wäre jedoch lohnenswert; denn die kognitiven Fähigkeiten verbesserten sich mit weniger Zeit am Bildschirm und mehr Schlafdauer. Die körperliche Aktivität hatte keinen (zusätzlichen) Einfluss.
    The Lancet 2018, doi.org/10.1016/S2352-4642(18)30278-5.

    Spezielle Fragen an Ihre Tochter in den jugendlichen Blütenjahren >>>

    Mehr Verantwortung übernehmen könnte ich hier

    Gefühle | Kreativität | Entspannung/Schlaf | Erholung im Urlaub | körperliche Aktivität | körperliche Fürsorge | Ernährung | Produktivität/Arbeit | Wohnen | Beziehung | Umweltbewusstsein | soziales Interesse | Lebenszufriedenheit | speziell für Männer | speziell für Lehrer/Betriebsleiter/Politikerspeziell für Kinder

    Hier ein Test zu Ihrer Berufs- und Lebenszufriedenheit (Charaktertest VIA (values in action) – ca. eine halbe Stunde Zeitaufwand): www.charakterstaerken.org der Forschergruppe um Willibald Ruch der Uni Zürich.

    „Langlebigkeit“:

    • Mythos 1:
      Pestizide in Lebensmittel machen uns krank.

      Gefühlte versus reale Risiken für die Gesundheit!
      Welche Themen für uns persönlich und subjektiv die grössten gesundheitlichen Risiken darstellen, sind meist überhaupt nicht die wahren Gefahren! Wahrnehmungsunterschiede sind abhängig von Medienberichten, Gewöhnlichkeit des Risikos sowie Schrecklichkeit.
      Oder anders gesagt: Man stirbt nicht an den Dingen, vor denen man sich fürchtet! (aus Tagesanzeiger, 26.03.2016, Constantin Seibt, Fürchte dich nicht)

      Die grossen Risiken sind also: Völlerei, Bewegungsmangel, Rauchen und der alltägliche Strassenverkehr (Im Jahre 2011 starben in Deutschland im Strassenverkehr 3991 Personen = 11 Tote durch PKW-Unfälle täglich – „So etwas passiert anderen, nicht mir!“).
      Weiterlesen zur Lebenserwartung >>>
      Weiterlesen ob wirklich alles „Natürliche“ besser ist >>>
      .
    • Mythos 2:
      Das heilsame Lachen
      Frohe Stimmung und Bekundung guter Gesundheit gehen oft Hand in Hand. Die Gefühlslage erweist sich als gewichtiger für die Einschätzung der eigenen Gesundheit als Hunger, Obdachlosigkeit und Sicherheit vor Kriminalität. Doch auch hier wird die gefühlte Gesundheit erfasst. Und dies heisst nicht, dass sie auch objektiv wirklich gesund sind! Also sorgt häufig eine robuste Gesundheit für eine gute Stimmung! Es ist sogar so, dass Frohnaturen Menschen sind, die sich wenig Gedanken über mögliche Missgeschicke machen. Dies wird vielen zum Verhängnis und sie rauchen eher, trinken mehr Alkohol und pflegen mit Vorliebe riskante Hobbies. Folgerichtig starben viele von ihnen bei Unfällen oder frühzeitig an den Suchtfolgen. No risk – no fun also!
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    • Mythos 3:
      Die kranken Neurotiker
      Umgekehrt kann es durchaus Vorteile haben, zu jenen Menschen zu gehören, die immer etwas befürchten oder beklagen (im Fachjargon „Neurotizismus“ genannt). Er fühlt sich zwar unglücklicher und kränker, aber er lebt länger! Objektiv sind sie tatsächlich „gesünder“ – doch will ich „objektiv gesünder“, aber unglücklich sein – oder lieber glücklich, aber etwas kurzlebiger?! (Howard Friedmann, M.Kern: Personality, well-being and health. The Annual Review of Psychology, 65, 2014, 719-742)
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    • Mythos 4:
      Religion verlängert das Leben
      Viele Studien suggerieren, dass Gottgläubige gesünder sind. Wenn man dies aber näher betrachtet, findet man dabei als wichtigste Faktoren, dass dies Menschen auch disziplinierter und massvoller lebten – und dass dies die Gründe für mehr Gesundheit waren.
      Die einzige „Religion“, die gesünder macht, ist sicher der „Humanismus“ und das Studieren der Philosophie, das Sich-Wundern.
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    • Mythos 5:
      Die Ehe hält jung
      Bei Männer stimmt dies zwar – wohl aber, weil ihre Frau mehr soziale Kontakte schafft, ihn auch mal ermahnt, weniger zu rauchen oder zu trinken und mal zum Arzt zu gehen… Frauen dagegen gewinnen durch das Ehedasein nichts! Es gilt sogar: Je jünger die Ehefrau, umso länger lebt der Mann. Umgekehrt stimmt dies aber auch nicht! (Sven Drefahl: How does the age gap between partners affect their survival? Demography, 47/2, 2010, 313-326)
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    • Mythos 6:
      Bloss keinen Stress!
      Stress an sich schadet nicht! Akuter und vorübergehender Stress! Jedoch chronische Stresssituationen, Dauerstress sind sehr ungesund! Wenn jemand seiner Arbeit nicht gewachsen ist oder überhaupt ständig zuviel von ihm verlangt wird, dies ist krankmachend. Und… chronischer Stress in der Jugend (z.B. auch durch Armut!) verändert uns rein neurobiologisch negativ (hier unten lesen Sie mehr darüber). Dauerstress ist der ärgste Feind des Kohärenzgefühls (siehe bei Salutogenese).
      Übrigens: Die erfolgreichen Arbeitstiere leben nicht zuletzt deshalb gut und lange, da sie besonders gewissenhaft sind. Also auch hier ist wieder die Selbstkontrolle der wichtigste Faktor zur Gesundheit.
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    • Mythos 7:
      Geld bringt Gesundheit und ein langes Leben!
      In seiner Studie «Wellbeing and Policy» untersucht der britische Ökonom Richard Layard, wie stark das Glücksempfinden vom Gehalt abhängt. Das überraschende Ergebnis: Die Korrelation ist viel geringer als angenommen. Geistliche, die 2013 kaum mehr als 20 000 £ verdienten, sind zufriedener als Chefs und hohe Kader, die es durchschnittlich auf fast 120 000 £ brachten. Besonders zufrieden sind auch Bauern und Sekretärinnen. Beide verdienen etwa gleich viel wie Bauarbeiter, die aber besonders unglücklich sind.Als wegweisend für die Entwicklung des Forschungszweigs gilt eine Erkenntnis des amerikanischen Ökonomen Richard Easterlin aus dem Jahr 1974: Reiche sind innerhalb eines Landes zwar glücklicher als Arme, aber wenn der Wohlstand eines Landes insgesamt steigt, ändert dies nichts am Glücks-empfinden. Layard erklärt das «Easterlin-Paradox» damit, dass sich Menschen intensiver mit ihrem Umfeld vergleichen, also das relative Gehalt in den Mittelpunkt rücken, statt ihr absolutes Gehaltsniveau wertzuschätzen.Vor allem Banken sind laut Layard mit der Angewohnheit, hohe leistungsabhängige Boni auszuschütten, auf dem Irrweg. Die Ausschüttungen führten zu einer Unzufriedenheit, die in keinem Verhältnis zum Wert des Geldes stehe. In einem Umfeld, in dem mit guten Leistungen viel Geld zu verdienen sei, leisteten Leute nicht mehr, sondern weniger. Vielleicht aus Angst, zu versagen.Unter Ökonomen stösst die Entwicklung auch auf Kritik. Alternativen zum BIP würden mit einer spezifischen Agenda im Hinterkopf konstruiert und könnten leicht von Regierungen manipuliert werden, argumentiert etwa der Schwede Johan Norberg. Er spricht von «Glücks-Paternalismus». Das BIP sei nicht perfekt, aber immerhin wertfrei. Davon abzugrenzen ist die reine „Lebenserwartung“, die mindestens in den USA mit steigendem Einkommen zunimmt. Dies gilt aber vor allem für die ganz Armen und die ganz Reichen. Dort ist das Verhalten gegenüber der eigenen Gesundheit völlig verschieden: Ärmere Menschen sind weniger gebildet, rauchen mehr und sind weniger körperlich aktiv… (Chetty R, et al. JAMA.2016;315 (16):1750-66)
      Daraus lässt sich zunächst eine naheliegende Forderung ableiten: Man spricht am besten weniger über Geld. Layard verweist zur Unterstützung auf ein Experiment der Uni Berkeley. Dort wurden die Gehälter der öffentlichen Angestellten auf einer Website veröffentlicht. Bei Uni-Angestellten, die das zunächst nicht mitbekamen, änderte sich nichts am Wohlempfinden, während bei jenen, die gezielt informiert wurden, die Zufriedenheit messbar zurückging.
      Die Glücksforschung, eine wachsende Teildisziplin der Ökonomie, kombiniert Empirie mit neurowissenschaftlichen Erkenntnissen. Sie bringt Ergebnisse hervor, über die sich selbst der Dalai Lama freuen würde. Einkommen und Aufstiegschancen spielen bei der zentralen Frage, ob Menschen mit ihrem Leben zufrieden sind, eine viel geringere Rolle als jahrzehntelang angenommen. Körperliche und seelische Krankheiten sind in entwickelten Volkswirtschaften ein triftigerer Grund, unglücklich zu sein, als Armut.
      Update 2021:
      Geld macht glücklich, das gilt in der Wissenschaft als Konsens – aber nur bis zu einer gewissen Einkommensobergrenze. Ein Forscher sah sich nun die Beziehung zwischen Einkommen und Wohlbefinden erneut an und stellte fest, dass die Befragten von umso grösserem Wohlbefinden berichteten, je höher ihr Einkommen war – eine Obergrenze liess sich nicht definieren.   Es wurden dazu die Angaben von mehr als 33 000 US-Amerikaner*innen zwischen 18 und 65 Jahren ausgewertet. Sie machten unter anderem Angaben zu ihrer allgemeinen Lebenszufriedenheit und ihrem momentanen Wohlbefinden. Diese Unterscheidung ist wichtig, weil das momentane Wohlbefinden in anderen Studien nur selten erfasst worden sei. Das mag der Grund sein, dass er – anders als frühere Studien – keine Einkommensglück-Obergrenze feststellen konnte. Die Auswertung zeigte aber auch: Befragte mit geringerem Einkommen, denen Geld nicht so wichtig war, waren zufriedener. Dass die Bedeutung des Geldes eine Rolle spielt, zeigt eine weitere Studie: Befragt wurden hier knapp 700 Personen in ländlichen und städtischen Regionen in zwei Ländern mit sehr geringem Durchschnittseinkommen. Ihre Zufriedenheit war hoch – Geld war den Befragten aber auch nicht wichtig. Geld macht also nur dann glücklich, wenn es uns viel bedeutet. (S. Miñarro u. a.: Happy without money; Plos One, 2021 & M. A. Killingsworth: Experienced well-being rises with income, even above $ 75,000 per year. PNAS, 118/4, 2021)

      Weiterlesen über MISWANTING >>>
    • Mythos 8:
      Der Ärger mit dem Ärger!
      „Nichts und niemand kann Dich ärgern – ausser Du dich selbst!“ Fritz Perls
      Zudem gibt es keine „kleinen“, alltägliche Aufregungen oder Ärger. Sie alle stören den Frieden meines Geistes gleichermassen. Sie alle verhindern, dass ich jemals etwas gelassener werde: Weiterlesen >>>
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    • Mythos 9:
      Das Natürliche ist immer besser als das Chemisch-Synthetische!

      Meine liebste Denkfalle ist die Annahme, dass alles Natürliche gesünder und milder wäre als etwas Chemisches, Synthetisches. Als Beispiel: Alle pflanzlichen Medikamente sind besser als synthetische. Da will ich nur an – kaum erforschte – toxisch wirkende Pflanzen, wie Digitalis (Fingerhut) erinnern, die (in falscher Dosis) selbst tödlich wirken können.

      Weiterlesen ob wirklich alles „Natürliche“ besser ist >>>

    Armut in der Jugend und was sie anrichtet

    Armut ist Stress – chronischer Stress! Stress heisst rein biologisch, den Körper für die Flucht bereitzumachen. Die Stresshormone, die dabei ausgeschüttet werden, haben – je nachdem, ob es sich um einen milden, kurzzeitig auftretenden Stressfaktor oder um einen massiven, längeranhaltenden handelt – unterschiedliche Auswirkungen auf das Gehirn. Chronischer Stress ist anders als kurzzeitiger Stress nicht hilfreich, um eine Aufgabe zu bewältigen, sondern sorgt dafür, dass die Fähigkeit zur Problemlösung abnimmt. Denn Teile des präfrontalen Cortex schrumpfen bei chronischem Stress, während das Angstzentrum im Hirn, die Amygdala angeregt wird.

    Forschungsergebnis liefern heute den Schlüssel zum Verständnis, wie sehr das sozioökonomische Umfeld das weitere Leben bestimmt. Und zwar schon bei 5-jährigen Kindern. Es wird bereits dann der Grundstock gelegt für die Gesundheit, die ein Mensch 20 Jahre später haben wird. Studien zeigen, dass 10-jährige Kinder aus ärmeren Familien doppelt so viel Stresshormon im Blut haben, wie Kinder aus reicheren Familien. Damit wird deutlich, dass die Startbedingungen über Wohl und Wehe entscheiden. Auf neurobiologischer Ebene.

    Eine Warnung an Gesundheitsförderer

    Der Gesundheitsexperte schreibt vor, dass sich der Laie gesundheitsgerecht verhalten soll oder seine Gesundheit mehr in die Hand nehmen soll, ohne zu fragen, ob der Laie Gesundheit will, und schon gar nicht, wenn er ungefragt muss. Mit den schönen Worten der Gesundheitsförderung (zur Gesundheit befähigen) wird also etwas unterschlagen, was als Pflicht zur Gesundheit besser umschrieben wäre. Gesundheit wird zur Norm. Eine Erfolg versprechende Gesundheitsförderung hätte nicht nur kulturelle Muster wahrzunehmen und zu berücksichtigen, sie müsste sich auch fragen, ob es ihrem Anliegen gut tut (Menschen zur Gesundheit zu befähigen), wenn dieses mit einer staatsbürgerlichen Pflicht sozusagen identisch ist. Möglicherweise ist dies ein wesentliches Problem, an dem Gesundheitsförderung bisher gescheitert ist. Es ist gut, falls mir bewusst ist, dass sie auf die eine oder andere Weise etwas mit Machtausübung verbunden ist (gemäss Foucault ein Teil der Disziplinarmacht von mittleren und höheren Schichten gegenüber den unteren). In unserer Gesellschaft werden diejenigen diskriminiert, die dem Anschein nach zentrale Werte des Abendlandes verstossen, gegen die Idee der Mässigung beziehungsweise des rechten Masses (griechische Antike), gegen christliche Gebote, die sich zum Beispiel gegen Völlerei (Adipositas) oder Süchte (Drogen, Rauchen) richten. Diese Debatte über Mässigung passt aber wenig zu dem hedonistischen Bild, mit dem sich unsere Gesellschaft gerne umhüllt. Maximale Lust, maximaler Spass scheinen das Gebot der Stunde zu sein, also Party ohne Ende. Das Paradoxon des Kapitalismus, mit dem einerseits grenzenloser Luxus und Genuss versprochen werden, dessen Geist allerdings radikale Askese einklagt. Hoher Blutdruck, Schlaflosigkeit, Leistungssportler werden deshalb nicht diskriminiert. Die bürgerliche Aufklärung kreiert allerdings einen historischen Gegenspieler, die Romantik, die von vernünftiger Lebensführung nun gar nichts wissen will. Sie setzt auf das Gefühl, auf Müssiggang, Entgrenzung, Risiko und Todessehnsucht.
    Oder: Jeder hat ein Recht auf ungesundes Verhalten, das oft attraktiv und bequem ist. Es existiert hier kein „gut“ oder „böse“, kein „normal“ oder „sündig“ (Christoph Klotter: Warum wir es schaffen nicht gesund zu bleiben. Eine Streitschrift zur Gesundheitsförderung. 2009, Reinhardt, München).
    Gesundheit ist ein Wert, der mit anderen Werten wie Genuss, Müssiggang, Risiko konkurriert. Vieles, was als unvernünftig, unsittlich usw. etikettiert wird, wird attraktiv. Ein Verhalten als Sünde zu definieren, führt dazu, diese Verhalten eher zu verstärken. Gesundheitsförderung positioniert sich am besten in einer Balance zwischen Produktivität und Spiel. Sie ist nach Möglichkeit nicht alleine um Nützlichkeit zentriert. Sie könnte sich auch damit anfreunden, selbst ein Teil des Unproduktiven zu sein, des Müssigganges, des Faulenzens, des Spiels.

    Gesundheit ist nicht alles, aber ohne Gesundheit ist alles nichts!

    Wenn wir Gesundheitsförderung betrachten, müssen wir zum Schluss noch die Charta des Spiritus Rector, des Ideen- und Ratgebers anschauen, der WHO: Für diese erschöpft sich das Ganze nicht in Rückenkursen und Stressbewältigungstraining, sondern sie ist ein nahezu sozialrevolutionäres Programm. Gesundheit für alle bedeutet Frieden, Sicherheit, Bildung, Essen, Einkommen, ein stabiles Ökosystem, nachhaltige Ressourcen und soziale Gerechtigkeit, also Demokratie und Menschenrechte. Eine Gesundheitsförderung versetzt die Menschen am besten in die Lage, sich um ihre Gesundheit zu kümmern und befähigt sie, bessere Kontrolle über ihre Lebensbedingungen zu haben. Die Gesundheitsförderung geht also auch die Politik an, die Schule, den Betrieb, die Gemeinde.
    Gesundheit ist eine ausgewogene Ganzheit, ein Gleichgewicht, eine Harmonie von Kräfte und Funktionen: uns intensiv um unser physisches Selbst kümmern; den Verstand konstruktiv nutzen; unsere Gefühle ausdrücken; kreativ mit unserer Umwelt verbunden sein; unsere physische Umwelt wichtig nehmen; unser Leben als sinnvoll erfahren. Gesundheit hat zu tun mit Lebendigkeit, mit Lebenssinn und mit der Fähigkeit, trotz Leiden und Anfechtung sein Leben zu führen, sich zu entfalten, die oder der zu werden, die oder der man ist. Damit trägt Gesundheit auch zum Funktionieren von Freundschaften, Familien und Gemeinschaften bei. Gesundheit in diesem umfassenden Sinn sollte für alle Menschen erreichbar sein.

    Selbstoptimierung

    Die Philosophin Ariadne von Schirach beschreibt in Ihrem Buch «Du sollst nicht funktionieren» die Folgen dieses Leistungsdruckes der Selbstoptimierung als fatal:
    „Jenseits von Burnout, Einsamkeit und Angst ist doch das Schlimmste an der unablässigen Selbstoptimierung dieser überall bemerkbare Verlust von Lebensfreude. Wir verlernen, uns gehen zu lassen. Die Fähigkeit, Hingabe, Lust und Rausch zu erleben und zu geniessen, kommt uns durch diese dauernde Selbstbeobachtung und -kontrolle abhanden. Doch das ist nicht alles.
    Die Philosophie rät seit Jahrtausenden, der Mensch solle sich um seine Seele kümmern. Das bedeutet, eine Beziehung zu seinem Inneren zu haben – zu seinen Gefühlen, Träumen und Werten. Zu seiner eigenen Lebendigkeit. Wenn diese Beziehung verloren geht, verlieren wir auch den Sinn unseres Lebens.
    Selbstoptimierung als eine Form von Kontrolle suggeriert nun Sicherheit. Auch angesichts der umfassenden Beschleunigung versuchen wir, an etwas festzuhalten: an unserer Jugend oder an unserer Leistungsfähigkeit.
    Zugleich versuchen wir uns immer wieder auf allen möglichen Märkten zu beweisen – vom Dating- bis zum Arbeitsmarkt.
    Dadurch wird der Selbstwert zum Marktwert. Dabei vergisst man leicht, dass jeder Mensch, genau so wie jedes Stück Natur und jedes Tier, an sich wertvoll ist. Dieses Wissen müssen wir uns zurückerobern.

    Also zurück zur Authentizität?

    Da muss man differenzieren: Das Authentische des Menschen ist nicht nur sein Inneres, sondern eben Inneres und Äusseres zusammen. Diese puritanische Haltung, wir müssten uns nur auf das Innere konzentrieren und der verlogenen äusseren Welt abschwören, bringt uns auch nicht weiter.

     Was bringt uns denn weiter? Wäre ein Mittelmass aus Selbstoptimierung und Lebenskunst optimal?

    Ich glaube, der entscheidende Gedanke hinter dieser Frage betrifft nicht nur das Mass, sondern auch die Motivation. Es ist sinnvoller, die Energie, die wir in die Optimierung unseres Selbst stecken, dafür zu nutzen, das Bild, das wir abgeben möchten, mit unserer inneren Wirklichkeit in Korrespondenz zu bringen.

    In einer Zeit, in der die Welt so sinnlos und brutal wirkt, liegt es an jedem Einzelnen, Widerstand gegen Konkurrenz, Kälte und Gier zu leisten. Das beginnt mit einem nutzlosen Lächeln, das wir dem anderen schenken, anstatt ihn oder sie einfach nur abzuchecken. Es ist an der Zeit, wieder Lieben zu lernen und das Leben zu wagen, anstatt es nur zu verwalten.“

    Es ist also sehr gut zu erkennen, dass es nicht so wichtig ist, dass sie eine bessere Version von sich selbst werden. Es ist viel wichtiger, ein anständiger Mensch zu werden.
    Es ist völlig in Ordnung, Träume zu haben und unmögliche Ziele zu verfolgen. Aber es lohnt sich auch zu bedenken, dass alles im Leben nur vorübergehend ist. Auch gibt es etwas, was Psychologen die „hedonische Tretmühle“ nennen: Wann immer Sie etwas erreichen, gibt es immer irgendein weiteres Ziel, das Sie erreichen möchten. Das Erreichte wird schnell schal. Und so läuft man immer im Kreis, immer auf der Suche nach dem nächsten Ziel und wird nie glücklich und zufrieden sein. Wenn Sie das einmal erkannt haben, dann ist es an der Zeit zu fragen: Was ist wirklich wertvoll – nicht nur für mich, sondern für möglichst viele Menschen, ob sie mir nahestehend sind oder nicht.

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    Veröffentlicht am 02. Juni 2017 von Dr. med. Thomas Walser
    Letzte Aktualisierung:
    10. Januar 2025