Dauerstress treibt viele Krankheiten an. Besonders hervorzuheben ist seine Rolle als Hauptursache chronischer Entzündungen, die wiederum viele Zivilisationskrankheiten und auch das Altern selbst begünstigen.
Was verursacht bei uns Menschen Dauerstress:
- Sinnentfremdete Arbeit, die in unsere Freizeit, Auszeit und Lebenszeit eindringt.
- Verlust unserer Rhythmen, die zyklische Regeneration ermöglichen: Arbeit vs. Lebenszeit, Kontakt vs. Rückzug, Spannung vs. Entspannung, Tag vs. Nacht, Essen vs. Essenspausen, Sitzen vs. Bewegung.
- Falsche Glücksziele: zu viel Konsum, der zu mehr Arbeit und weniger Lebenszeit führt (Miswanting).
- Zu viel Zeit in Social Media, die unglückliche Vergleiche und Popularitätswettbewerbe fördert.
- Übermässiges Optimieren und Selbstkontrolle, einschliesslich Ernährung oder Sport.
- Zu wenig Entspannung.
- Toxische „Freunde“ mit der „dunklen Triade“.
- Einsamkeit.
- Zu wenig Bewegung, die nicht auf Optimierung abzielt.
- Dauerlärm,…

Neuroinflammation und Chronischer Schmerz durch Dauerstress und Schlafstörungen
Dass lang anhaltender psychosozialer Stress zu Schmerzerkrankungen führen kann, wurde in den letzten Jahren gut belegt. Eine wesentliche Rolle spielen auch hier neuroinflammatorische Prozesse, also entzündliche Vorgänge in unserem Nervensystem. Diese führen zusätzlich auch zu Schlafstörungen (Insomnie), welche wiederum im Teufelskreislauf das Schmerzerleben noch weiter verschlechtern. Beide Faktoren (chronischer Stress und Insomnie) und ihre Folge, die Neuroinflammation ist auch bedeutsam beim Fibromyalgie-Syndrom. Man spricht denn heute auch bei der Fibromyalgie von einer generalisierten, Stress assoziierten, neuroinflammatorisch mit bedingten Hypersensibilitätserkrankung.

Es existiert eine klare Interaktion zwischen unserem Stoffwechsel im Dauerstress und dem Immunsystem (Immuno-Metabolismus). Steroidhormone (Adrenalin, Kortisol) werden bei Stress ausgeschüttet (auch bereits bei einer starken körperlichen Belastung, sprich Leistungssport) sind potente Immunsuppressoren, führen also zu einer Drosselung (bei akuten Belastungen günstig) oder Fehlfunktion (bei langzeitiger Ausschüttung). Fieber führt zu einer tiefen Veränderung im Metabolismus. Als exemplarisches Beispiel ist die Insulinresistenz und der Insulinsekretionsdefekt beim Diabetes in wesentlichen Aspekten eine pathologische Reaktion des Immunsystems – auch die wichtigsten Komplikationen des Diabetes: Herz-Kreislauf, Nieren- und Augen-Krankheiten.
Auch die Zusammensetzung unserer Darmflora spielt in diesem Zusammenhang wahrscheinlich eine sehr grosse Rolle (Beispiel Diabetes: bei der Entstehung der Insulinresistenz).
Dauerstress erhöht dauerhaft das Cortisol
Bei Stress schüttet die Nebenniere Cortisol, Adrenalin und andere Hormone aus. Adrenalin wirkt schnell: Es verursacht Herzrasen und feuchte Hände, was unangenehm ist, aber nach wenigen Minuten vergeht und dem Körper nicht schadet. Cortisol hingegen wird erst nach zwanzig bis dreissig Minuten freigesetzt. Man spürt es nicht direkt. Es erhöht den Blutzuckerspiegel, versorgt das Gehirn mit Energie, stoppt die Verdauung und drosselt das Immunsystem, um alle Kräfte auf die Stressbewältigung zu konzentrieren. Die Wirkung von Cortisol kann Stunden anhalten. Bleibt der Stress, bleibt auch der Cortisolspiegel hoch.
Zahlreiche Studien zeigen: Menschen mit hohem Selbstwertgefühl und Extrovertierte gewöhnen sich an stressige Momente. Ängstliche Personen hingegen schütten bei jedem stressigen Vorfall mehr Cortisol aus. Der Feuermelder wird bildlich gesehen sensibler auf Rauch.
Forscher fanden heraus, dass Menschen, die schwierige Situationen als Herausforderung sehen, weniger Cortisol ausschütten als jene, die sie als Bedrohung empfinden. Man kann lernen, Herausforderungen statt Bedrohungen zu sehen.
Vor allem zeigen die Studien auch, dass Stress oft mit sozialen Erwartungen zusammenhängt. Er ist teilweise ein gesellschaftliches Konstrukt. Menschen empfinden Stress, wenn sie glauben, eine Aufgabe nicht zu meistern und dafür schlecht beurteilt zu werden. Dann steigt der Cortisolspiegel.
Stress hat auch sein Gutes
Stress kann kurzfristig nützlich sein. Er aktiviert und fokussiert uns, ähnlich wie eine Übung im Flugsimulator. Evolutionär diente die Stressreaktion dem Kampf oder der Flucht. Sie half dem Menschen, in Gefahrensituationen zu überleben, indem sie alle Kräfte mobilisierte. Der Steinzeitmensch rannte vor Raubtieren davon. Der Mensch des 21. Jahrhunderts evakuiert ein Flugzeug oder beendet eine Kundenpräsentation, beides fühlt sich oft gleich wichtig an.
Nach kurzer Zeit entkam der Steinzeitmensch dem Raubtier (oder wurde gefressen), die Evakuierungsübung endet, die Präsentation ist fertig. Dann baut der Körper das Cortisol ab.
Problematisch wird es, wenn der Stress anhält. Das geschieht, wenn eine Stresssituation die nächste jagt oder Gedanken kreisen: War ich gut genug? Werde ich es bleiben? Dann kann der Körper nicht regenerieren. Bei einem hohen Cortisolspiegel kann der Mensch in akuten Stresssituationen kein weiteres Cortisol ausschütten und bewältigt zusätzlichen Stress schlecht. So entwickeln chronisch Gestresste eine biologische Dünnhäutigkeit: Sie reagieren empfindlich auf den kleinsten Stress, wie ein Feuermelder, der zu sensibel eingestellt ist und sofort Alarm schlägt.
Auch zuwenig Cortisol kann krank machen
Durch die Messung der Cortisol-Einlagerung im Haar weiss man, dass Herzinfarkt-Patienten schon vor dem lebensbedrohlichen oder sogar tödlichen Ereignis einen besonders hohen Cortisolspiegel hatten. Burn-out-Patienten wiederum haben einen sehr niedrigen Cortisolspiegel. Bei ihnen ist der Feuermelder defekt und meldet sich kaum mehr. Von der Hyper-Cortisolproduktion sind die Burn-out-Patienten in die Hypo-Cortisolproduktion gerutscht. Die Ausgebrannten, auch das kann man an ihren Haaren sehen, produzieren viel zu wenig Cortisol.
Dauerstress herrscht überall, wo das Kohärenzgefühl fehlt
Mangelndes Kohärenzgefühl (Zusammenhang, Stimmigkeit) ist das Gefühl des Ausgeliefertseins ohne Sinnhaftigkeit, Handhabbarkeit und Verstehbarkeit – auch bei Krankheitssymptomen. Vertrauen in sich und seine Selbstheilungskräfte, in die Gesellschaft, Freundinnen und die Therapeuten spielt eine sehr grosse Rolle – und natürlich Abwesenheit von Krieg, Klimasorgen, Hunger, schwere Armut.
Unser Leben ist immer irgendwie „stressvoll“. Stress ist nicht zu vermeiden. Entscheidend aber ist, ob ich dem stressvollen Ereignis, etwa einer Prüfung, Sinn verleihen kann, ob mir klar ist, dass diese Prüfung notwendig ist (zum Beispiel, um mir bewusst zu machen, ob ich genügend Kompetenz besitze, um dann in einem bestimmten Bereich zu arbeiten), ob ich die Prüfungsfragen verstehe (Verstehbarkeit), ob ich mit der Prüfungssituation zurecht komme (pünktlich sein, nicht panisch sein, mir genügend Zeit für jede Frage nehme, usw.). Das wäre die Handhabbarkeit. All dies fällt auch unter den Begriff „Selbstwirksamkeit“. Weiterlesen >>> Salutogenese.
Dauerstress schwächt Kohärenz und Lebensmut
Menschen, die ihr Leben als kohärent – also als sinnvoll, versteh- und bewältigbar – empfinden, sind gut gerüstet gegen Krankheiten. Doch auch körperliche Einflüsse bestimmen das Kohärenzgefühl: Gerät der Organismus dauerhaft aus dem Gleichgewicht, etwa durch ständigen Stress, sinkt langfristig das Kohärenzgefühl; die Betroffenen empfinden ihren Alltag zunehmend als sinnentleerte Zumutung.
Ein schwedisches Forschungsteam wies auf diesen Zusammenhang hin. Es wurden medizinische Labordaten von 369 gesunden Frauen analysiert, die im Alter von 43 Jahren einen ärztlichen Routinecheck absolviert hatten. Sie zählten, wie viele Kennwerte (etwa Blutdruck, Blutfette, Waist-Hip-Ratio) im riskanten oberen Viertel lagen. Die individuelle Summe dieser Risikowerte bildete ein Mass für die sogenannte “allostatische Last”. Die Allostase ist der Prozess, durch den der Körper in Anforderungssituationen (also im Stress) durch körperliche und psychologische Verhaltensänderungen die Stabilität aufrechterhält.
Sechs Jahre später kontaktierten die Forscher die Frauen erneut und liessen sie einen Fragebogen zu ihrem Kohärenzempfinden ausfüllen. Sie fragten, inwieweit die Frauen “die Dinge, die ihnen alltäglich widerfahren” im Grossen und Ganzen verstehbar fanden, ob Probleme sie hoffnungslos stimmten oder zur Suche nach Lösungen anspornten und ob sie den Alltag als “eine Quelle persönlicher Befriedigung” empfanden. Das Ergebnis: Je höher die “allostatische Last” einer Teilnehmerin sechs Jahre zuvor war, desto schlechter stand es nun um ihren Sinn für Kohärenz. Übrigens: Auch Rauchen, geringe Bildung und ein (unglückliches) Singleleben schadeten der Kohärenz.

Die “allostatische Last” misst, wie stark das Gleichgewicht des Körpers gestört ist – vor allem durch wiederholten und chronischen Stress. Stress ist eine natürliche Anpassungsreaktion des Körpers auf Anforderungen; er ist unschädlich, wenn der gestresste Organismus anschliessend ausreichend Zeit zur Erholung findet. Ist dies nicht gewährleistet, etwa weil der Stress über Tage und Wochen anhält, findet der Körper nicht vollständig zum Gleichgewicht zurück: Allostatische Last häuft sich an.
Dieses körperliche Ungleichgewicht wirkt sich auch seelisch aus und schmälert das Kohärenzempfinden und damit den Lebensmut – ein Teufelskreis, fürchten die schwedischen Forscher: “Ein schwaches Kohärenzempfinden reduziert die Fähigkeit eines Menschen, seinen Alltag erfolgreich zu bewältigen, was wiederum Spannung und Stress verstärkt, die körperlichen Ressourcen verschleisst und das Gesundheitsrisiko erhöht.” Andererseits gilt wohl auch umgekehrt: Wer sein Leben als kohärent und sinnhaft empfindet, baut Stress rascher ab und schont seine körperlichen Ressourcen.
Dauerstress ist Atemlosigkeit, Spannung, Enge. Die neuen “Simultanten” unserer Beschleunigungs-Gesellschaft (“Zeit ist Geld!”) leben im Dauerstress von simultanem E-Mailen, Simsen, Essen, Telefonieren, das Kind versorgen, sich fortbewegen…!
Stress ist übrigens auch “ansteckend”! Man sollte sich von gestressten Menschen fernhalten, um selbst zur Ruhe zu kommen.
Tragödie oder nur Unannehmlichkeit?
Forscher fanden heraus, dass Menschen, die schwierige Situationen als Herausforderung sehen, weniger Cortisol ausschütten als jene, die sie als Bedrohung empfinden. Man kann lernen, Herausforderungen statt Bedrohungen zu sehen.
Wenn Sie das nächste Mal gestresst sind, fragen Sie sich: Ist das eine Tragödie oder nur eine Unannehmlichkeit? Laut Harvard-Professorin für Psychologie, Dr. Ellen Langer kann diese Frage Sie beruhigen. Sie mindert die physiologischen Schäden durch Stress und hilft Ihnen, das Problem besser zu bewältigen. Manchmal sind Ihre Probleme echte Tragödien. Dann hilft es, sich nicht über Kleinigkeiten aufzuregen und Ihre Ressourcen für den Ernstfall zu schonen.
Gereizter Dauerspannungstonus
Ob sich ein starkes oder ein schwaches Kohärenzgefühl herausbildet, hängt auch von den gesellschaftlichen Gegebenheiten ab, insbesondere von der Verfügbarkeit generalisierter Widerstandsressourcen, die ein starkes Kohärenzgefühl entstehen lassen.
In dieser Hinsicht beobachte ich bei meinen Patient:innen und in der Gesellschaft eine ständige Gereiztheit, begleitet von der Angst, Privilegien zu verlieren. Die Menschen stehen unter Strom und können die Spannung nicht abbauen. Beziehungen werden unruhiger, private Konflikte eskalieren, und zur Sorge, den Anforderungen nicht zu genügen, gesellt sich die Angst vor äusseren Gefahren: Kriege, Klima.
Steigt deshalb also die Zahl psychischer Störungen? Ich halte wenig von einer inflationären Pathologisierung und dem ständigen Absenken der Krankheitslevel. Das Angebot an medizinischer Hilfe hat eine wachsende Nachfrage erzeugt, die sich prächtig rentiert. Diese Nachfrage führt zu einem Krankheitsgewinn in jedem Sinne. Wir neigen zunehmend dazu, unser Leiden in Diagnosen zu verpacken und behandeln zu lassen. Doch ist die Nervosität nicht eine angemessene Reaktion auf die Welt, wie sie ist? Und so auch das Leiden?
Manchmal verspüre ich den unprofessionellen Impuls, den Menschen zu sagen: „Denk nicht so kompliziert, mach einfach etwas Schönes. “ Resilienz lässt sich jederzeit erlernen – durch Musik oder durch die Wiederbelebung sozialer Kontakte, etwa beim Zusammensitzen mit verschiedenen Menschen. Warum nicht auch den Vagusnerv aktivieren?
Das wäre einmal etwas Neues: in aller Ruhe nervös zu sein. Diese Gesellschaft ist nervös, und das ist nicht schlimm, sondern realitätstüchtig – sogar klug. Katastrophenrealismus rechtfertigt keine Krankschreibung. Im besten Fall zeigt sich Nervosität als lebhaftes Wechselspiel von Sympathikus und Parasympathikus. Gerade die Nervosität signalisiert Offenheit, Wachheit und Aufnahmebereitschaft – im Gegensatz zur Verdrängung der Wirklichkeit und zur Leugnung der komplizierten Tatsachen.
Diese Leugnung breitet sich aus und ist ein guter Grund, beunruhigt zu sein. Eine Nervosität, die in die Leugnung von Tatsachen umschlägt, ist problematisch. Doch wer in aller Ruhe nervös ist, kann gelassen sagen: „Nerv mich ruhig, denn nervös bin ich sowieso – ich bin gespannt, was jetzt kommt. Auf das Unvorhergesehene. “
Ein Ausweg aus diesem Dauerstress kann sein, dass wir zwar unsere Erlebnisse und unser Schicksal, einschliesslich Krankheiten, nicht wählen können, aber wir können entscheiden, wie wir sie wahrnehmen und beurteilen. Diese Einstellung, unser Selbsturteil, unsere Gedanken und Gefühle über das, was wir erleben, unterliegt unserem freien Willen. „Nicht was wir erleben, sondern wie wir wahrnehmen, was wir erleben, macht unser Schicksal aus.“
Toxische „Freund:innen“ mit der „dunklen Triade“ sind krankmachend
Unter Menschen zu sein, macht nicht automatisch glücklich. Eine Studie der University of California von 2014 zeigt, dass zwischenmenschlicher Stress und soziale Ausgrenzung Depressionen und körperliche Leiden wie chronische Schmerzen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Fettleibigkeit verursachen können.
Es kommt darauf an, sich mit den richtigen Menschen zu umgeben. Vielleicht lohnt sich eine soziale Entgiftungskur, bei der man sein Umfeld – Freunde, Chefs, Ehepartner – auf „soziale Raubtiere“ prüft, die rücksichtslos durchs Leben gehen und viel Energie kosten. Typisch dafür sind Menschen mit den Charakterzügen der „dunklen Triade“. Psychologen bezeichnen damit Narzissmus, Machiavellismus und Psychopathie. Ein wenig davon steckt in vielen von uns, und in kleinen Dosen können diese Eigenschaften im Job nützlich sein. Solche Menschen sind oft durchsetzungsstark und charmant, sie sind Macher. Gleichzeitig können sie impulsiv und manipulierend sein, selbstherrlich und eitel. Sie zeigen weder Reue noch Einfühlungsvermögen und biegen sich die Wahrheit zurecht. Man sollte sich von ihnen fernhalten und sich nicht in sie verlieben. Menschen der dunklen Triade findet man eher in künstlerischen, unternehmerischen und sozialen Berufen. Wirklich glücklich sind sie selten.
Am besten wählt man die gleiche Strategie wie überall im Leben: auf die hellen Seiten fokussieren. Sprich: nicht die Psychopathen meiden, sondern die freundlichen Menschen suchen. Der Kognitionswissenschaftler Scott Barry Kaufman skizziert eine „helle Triade“ von Tugenden: Humanismus, Glaube an die Menschheit und Kantianismus (andere Menschen nicht instrumentalisieren, sondern sich um ihrer selbst willen mit ihnen abgeben). Kaufmans Bevölkerungsstichprobe zeigt, dass 50 Prozent der Menschen der hellen Triade angehören (gegenüber 7 Prozent der dunklen Triade).
Dauerstress durch Social Media bei jungen Frauen
Psychologen der Uni San Diego unter der Leitung von Jean Twenge veröffentlichten ein neues Paper über Depressionen und Mental Health Issues unter Jugendlichen, in dem sie einen starken Anstieg seit 2011 feststellen und zwar vor allem unter Millennials, also den nach 1980 geborenen. Gleichzeitig stellten die Forscher einen signifikanten Anstieg von Stress und Selbstmordgedanken unter Jugendlichen fest.
Die Zunahme von Mental Health Issues ist bei Mädchen deutlich stärker als bei Jungs. Der Grund dafür scheint der Popularitätswettbewerb zu sein, der unter Mädchen gnadenloser und härter ist, gerade im Hinblick auf soziale Interaktion, was sich in diesen Zahlen deutlich abbildet. Knaben können im Netz ihre Kompetitionsbereitschaft im Gamen ausleben, was sich psychologisch kaum negativ auswirkt.
Zusätzlich sind reichere Einkommensschichten eher von Stress und Selbstmordgedanken geplagt, die unteren Einkommensschichten leiden eher unter Depressionen. Auch hier scheint vor allem der Wettbewerb um Sichtbarkeit und Popularität relevant, der unter reicheren Menschen ausgeprägter ist.
Der Anstieg verläuft praktisch parallel zum Siegeszug von Social Media und die Psychologen halten klar das Netz, Smartphones und Soziale Medien für die Ursache dieses Anstiegs.
Jean Twenge untersuchte Umfrageergebnisse von über 200.000 Jugendlichen im Alter von 12 bis 17 Jahren von 2005 bis 2017 und von fast 400.000 Erwachsenen im Alter von 18 Jahren und darüber von 2008 bis 2017. Die Zahl der Jugendlichen, die Symptome angaben, die auf eine schwere Depression hinweisen, stieg um 52 Prozent (von 8,7 auf 13,2 Prozent), der Anstieg unter jungen Erwachsenen (18-25 Jahre) betrug sogar 63 Prozent. Bei Älteren stiegen Depressionen zwischen 2005 und 2017 unter 26-29-Jährigen um 29 Prozent, in den anderen Altersgruppen wurden sie weniger.
(Quelle: Jim Sliwa, „Mental Health Issues Increased Significantly in Young Adults Over Last Decad“; American Psychological Association , 04/2019)
Dauerstress und Depression
Auf diesen starken Zusammenhang kamen Forscher nun wieder bei der Enträtselung der antidepressiven Wirkung der psychedelisch wirkenden Drogen, wie Ketamin. Diese Droge verbessert die Übertragung von Informationen zwischen den Hirnzellen, stellten die Forscher fest. Sie lässt sogar neue Verbindungsstellen, Synapsen, entstehen. Herkömmliche Antidepressiva tun das auf Umwegen auch. »Plastizität« nennen Fachleute dieses Phänomen. Es ist entscheidend für das Lernen. Eine neue Hypothese war geboren: Depressionen entstünden, wenn diese Plastizität unseres Hirns sinke. Erhöhe man sie, lasse sich die Krankheit lindern.
Für diese Vermutung spricht einiges, denn Stress senkt die Plastizität. Und Stress entsteht durch akute oder chronische Überlastungen genauso wie durch frühe Traumata – alles bekannte Ursachen von Depressionen. Wenn Menschen aber nicht mehr so gut Neues lernen können, bleiben sie leichter in Grübelschleifen hängen, ziehen sich zurück. Die Verbindungen (Synapsen) im Gehirn leiden, die Verbindungen im Leben ebenfalls.
Eine weitere Erklärung für den Zusammenhang von Dauerstress und Depression führt über unseren Darm und sein Mikrobiom: Der Stress lässt unsere Darmflora massiv verarmen, was wiederum zur Depression führen kann.
Dauerstress durch Selbstoptimierung
In den letzten Jahren zeigt sich ein seltsames Phänomen: Ein neuer Typ von Leidenden tritt auf. Menschen, die ein achtsames, entschleunigtes Leben führen wollen und dabei alles, wirklich alles richtig machen möchten. Sie schreiben Tagebuch, notieren Gedanken und Ideen, ernähren sich bewusst, gehen zum Yoga – aber nicht aus Freude, sondern weil sie glauben, es tun zu müssen. Und dann sitzen sie hier, bei mir in der Sprechstunde, weil das alles nicht funktioniert.
Natürlich ist Yoga gut. Doch wer es nur macht, um es abzuhaken, schafft sich einen neuen Zwang. Dann wird das Anti-Stress-Programm selbst zum Stress.
Es scheint, als habe die Gesellschaft ein wichtiges Gefühl verloren: die Nüchternheit, Arbeit als Tauschgeschäft zu begreifen. Meine Anstrengung, meine Ideen, mein Wissen gegen Geld. Heute reicht das nicht mehr. Arbeit soll Sinn stiften, so viel Sinn, dass viele kaum ertragen, wenn ein Job einfach nur ein Job ist.
Gleichzeitig fällt es den Menschen schwer, Unzufriedenheit auszuhalten. Doch niemand ist immer glücklich, niemand immer entspannt. Ein Leben ohne Stress, ohne Cortisol, wäre ein Leben ohne Herausforderungen, ohne Lernen – ein Leben, in dem man morgens nicht einmal aus dem Bett käme.
Zu viel Cortisol führt in die Erschöpfung, gar keins ins Nichts. Wie also findet man die Balance?
Die Antwort ist unspektakulär, aber wirksam: regelmässig und gut essen, sich bewegen, regelmässige Waldspaziergänge, ausreichend schlafen. Und dann gibt es noch ein Mittel, vielleicht das beste. Es ist gut erforscht, von vielen Studien belegt: Zuwendung.
Ein empathischer Partner, ein guter Freund, jemand, der zuhört und berührt – diese Nähe wirkt wie eine Rüstung gegen Stress. Psychologen nennen es „Social Support“. Es kostet nichts, ist aber unbezahlbar.
Quellen:
Self-rated recovery from work stress and allostatic load in women, J Psychosom Res. 2006 Aug;61(2):237-42
Warum so nervös?, DIE ZEIT, 34/2024
Stress, Spannung, nervös: den Parasympathikus stärken
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Letzte Aktualisierung durch Thomas Walser:
14. Januar 2025