Autor: Dr. med. Thomas Walser

  • Gleichgewicht

    Gleichgewicht

    Das (strukturelle) Gleichgewicht des menschlichen Körpers

    Definitionsannäherungen

    Gleichgewicht bedeutet, dass sich alle Kräfte und Drehmomente eines Körpers gegenseitig aufheben, sodass die Summe der Kräfte null ist. Beim Menschen heisst das: Äussere Kräfte wie Schwerkraft und Normalkraft stehen im Gleichgewicht mit inneren Kräften wie Muskelkraft, elastischer Spannung des Bindegewebes und dem Innendruck unserer Körperflüssigkeiten. In statischen Haltungen wie Stehen und Sitzen befinden wir uns in einem labilen Gleichgewicht, einem dynamischen Kreisen um einen Nullpunkt. Am besten bleibt man in Bewegung, etwa durch leichtes Hin- und Herwippen im Stehen. Auch die Sitzposition sollte man regelmässig ändern. Gleichgewicht findet man leichter in der Bewegung.

    Was ist nun das Neue in der „Normal Function“  (NF) im Rolfing?

    Hans Flury erklärt im Interview: „Wie entsteht Bewegung? “ Dafür braucht es eine Kraft. Aus Erfahrung sagt jeder: Muskeln müssen arbeiten. Bei einem ruhenden Körper oder einem, der sich gleichmässig und gradlinig bewegt, halten sich alle Kräfte im Gleichgewicht und heben sich auf. Die richtige Antwort lautet also: Das Gleichgewicht der Kräfte muss gestört werden. Dann entsteht eine Nettokraft (ein treffender Begriff!) , die Bewegung auslöst. Wir können dieses Gleichgewicht nur über die Muskeln stören – und zwar auf zwei gegensätzliche Arten: Entweder wir erhöhen die aktive Spannung und verbrauchen mehr Energie, oder wir verringern sie und sparen Energie. Damit ist das Prinzip von NF formuliert. Die Nettokräfte, die Bewegung erzeugen oder verändern, sind immer die Schwerkraft, die elastische Kraft der Faszien oder beide zusammen. Das fügt sich gut zu den „zwei fruchtbaren Ideen“, die Ida Rolf in die Körperbetrachtung einbrachte. Gleichgewicht hat also auch mit maximaler Ökonomie zu tun. Die Ausarbeitung der speziellen Bedingungen war von diesem Ausgangspunkt aus relativ einfach. Es gibt bestimmte Regeln, die sich am Menschen in Bewegung zeigen: Die maximale Ökonomie der Bewegung – eine allgemeine Bedingung oder ein Prinzip – und drei Merkmale, die daraus folgen. Grundlage der strukturellen Bewegungslehre, etwa in der Strukturellen Integration nach Ida Rolf, ist das Prinzip: Jede Bewegung entsteht durch selektive Reduktion aktiver Spannung.

    1. Bewegung wird durch Muskelentspannung ausgelöst statt durch Muskelkontraktion. Dass Agonisten „ökonomisch“ bewegen können, sollten auch die Antagonisten zuerst loslassen (When flexors flex, extensors extend.) >>> Gewicht spüren (Schwerkraft). .
    2. Zu Beginn einer Bewegung wird die Mittellinie (der Innenraum des Körpers) länger statt kürzer. >>> Dehnung spüren (Elastische Spann- oder Federkraft gedehnter Faszien – statt Stauchung). .
    3. Das Gleichgewicht (balance und support) wird in der Bewegung besser statt schlechter. >>> Gestütztwerden spüren (Stützkraft der Erde: „Sich setzen“ wie eine vorsichtig hingestellte Einkaufstasche).

    Also: „Gratiskräfte“ benützen: Schwerkraft und Stützkraft  oder Normalkraft der Erde, elastische Spannkraft des Bindegewebes und nicht primär und nur minimal die Muskelkraft und wenn, dann v.a. die intrinsischen, tiefen, achsennahen Kernmuskeln. Zuviel Muskelarbeit („active tension“) staucht und verkürzt (tonische Anteile). Ökonomische Bewegung ist ruhig, schwingend und geschmeidig (katzenartig). Die Stabilität und gleichzeitig Beweglichkeit unseres Körpers wächst mit der Länge des Gewebes und nicht mit der Stärke der Muskeln (was zur Verkürzung und Steifigkeit führen kann): Sie entsteht also besser aus der elastischen Spannkraft der „Bindegewebshülle“ (Lesen Sie dazu meinen Blogbeitrag über das „Body Stocking“).

    Einschub: Raubtiere, Katzen bewegen sich vor allem aus dem Bindegewebe

    Zum Beispiel lassen Katzen sich beim Springen zuerst in das elastische Netz (oder die Feder) ihres Bindegewebes fallen und lassen sich dann spielend, leicht hinauskatapultieren >>> schön sichtbar auf diesem Youtube-Video:

    Es resultieren drei Eigenschaften des Gleichgewichts:

    1. Tiefenaktivität oder Kernstabilisierung und Oberflächenentspannung – auch Stabilität durch Länge und aus dem Bindegewebe (siehe „Body Stocking“!) Es ist für unser Gleichgewicht förderlich, wenn tiefe Strukturen in unserem Körper aktiv werden und die Stabilisierung übernehmen und oberflächlich gelegene sich entspannen können. Diese tiefen Strukturen nennt man auch „tiefe Rumpfstabilisatoren“, „lokale Muskeln“ oder „Core“ (Psoasmuskel, Beckenboden = M. Pubococcygeus, M. Transversus abdominis, Mm. Multifidi und Mm. Rotatores, M. Serratus, M. Longus colli,…). Siehe dazu auch „Die Segmentale Stabilisation“! Jede optimal ausgeführte Alltagsbewegung und -haltung beginnt mit der Aktivierung des sog. lokalen Systems, also der tiefen Rumpfstabilisatoren. Erst wenn diese aktiv sind, können die globalen, oberflächlichen Hüllmuskeln ökonomisch und entspannt arbeiten!
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    2. Hüftgelenksaktivität oder „Hüftachse hinter dem Lot“ Für das Gleichgewicht ist es wichtig, dass das Hüftgelenk  primär benützt wird und aktiv wird (dies im Vergleich zum Knie, welches häufig bei uns schon sprachlich im Vordergrund steht: „in die Knie gehen“, „Kniebeuge“…). Als schönes Beispiel hierfür gilt die „halbe Hocke“, die vor allem aus den Hüftgelenken kommt. Mit ihr kann man wunderbar entspannt (ein grösseres und auch kleineres) Gewicht heben.Dann die Federung aus der Hüfte beim Gehen (Hüftachse hinter Schulterachse) – oder die leichte Faltung beim Stehen, etc.. Zu optimalem Stehen und Gehen im Gleichgewicht lesen Sie in Kurzform hier (und mit mehr Anspruch hier: „Ökonomie der Bewegung“).
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    3. lange Mittellinie mit vorne konvexer Form Förderlich für die zwei obigen Qualitäten und das Gleichgewicht ist dann eine lange Mittel- und Frontallinie des Rumpfs (von Kinn bis Schambein), was auch ein langer Innenraum des Oberkörpers bewirkt, den man immer durch eine vorne konvexe Mittellinie erreicht (also durch ein senkrechtes Brustbein und ein Schambein, das hinter dem Lot liegt: Schultergürtel und Kopf können ruhig auf diesem Rumpf balancieren). Man weiss auch aus Studien, dass die Wirbelsäule aufrichtenden Mm. Multifidi erst aktiv werden können, wenn sich die Mittellinie des Rumpfs in der vorne konvexen Form befindet. Beim Rundrücken (hinten konvex – Becken vor Lot) sind sie inaktiv!

    Diese drei Regeln oder Merkmale bedingen und fördern sich gegenseitig.

    Einschub: Wir besitzen noch den Oberkörper der Vierbeiner mit all seinen Nachteilen, weil wir aufrecht stehen

    Wir Menschen neigen im Leben zur steten Verkürzung im Oberkörper an der Vorderseite und entwickeln im Alter häufig einen Rundrücken, da wir noch immer den Oberkörper eines Vierbeiners besitzen. Diese haben sinnvollerweise die Hinterwand des horizontalen Oberkörpers verstärkt (Wirbelsäule und starker Rippenkasten hinten), da dort dann all seine Organe aufgehängt sind. Ein Körperteil, der lange Zeit aufrecht ist, verstärkt sein Gleichgewicht mit einem zentralen Pfeiler. Wir sind noch zu wenig lang auf zwei Beinen – und deshalb liegt unsere Wirbelsäule im Brust- und Bauchraum noch immer hinten (als viel ökonomischer in der Mitte – was im Hals übrigens bereits geschehen ist, da die Hälse bereits im Tierreich immer aufrecht sind). Bei uns Zweibeiner wird deshalb die Vorderseite und – verheerender – der ganze Innenraum im Bauch und Brustraum gestaucht (viele Hohlräume, Luft und Wasser!). Damit wird u.a. unsere Bauchwand nach aussen gedrückt und muss ständig durch eine angespannte äussere Bauchwand gehalten werden, was wiederum unsere Vorderseite massiv verkürzt! Ein „Kampf“ im Teufelskreis, der immer verloren geht und im unansehnlichen Spitzbauch endet. Deshalb kann ein schöner, wohl geformter, flacher Bauch nur erreicht werden, wenn vor allem der Rektus-Bauchmuskel entspannt und lang bleiben kann.

    Auf dieser Abbildung sieht man links eine normal geschwungene Wirbelsäule und rechts eine Hyperkyphose der Brustwirbelsäule. Bei diesem Rundrücken rechts fehlen alle drei obigen Kriterien eines Gleichgewichts!

    Sehr verkürzt und prägnant könnte man sagen: Bei einem Becken, das etwas hinter dem Lot liegt und der Kopf obendrauf balanciert, sind die wichtigen, tiefen Core-Muskeln aktiv. Beim Becken vor dem Lot, welches auch einen Kopf, der nach vorne hängt, verursacht, sind diese tiefen Rumpfstabilisatoren inaktiv – und der ganze Oberkörper, inklusive Wirbelsäule sind gestaucht und verkürzt.

    Wie kann ich prüfen, ob ich mich im Gleichgewicht befinde?

    1. globale Anzeichen sind – Gefühl der inneren Aufrichtung ohne Anstrengung. – viel Innenraum im Rumpf: tiefere Atmung möglich, Energie fliesst ungehindert von den Beinen bis in den Kopf. – wache Sinne (Augen, Ohren, Sensibilität in Fusssohlen, aber auch im übrigen Körper). – allgemein belebter, sehr wach und präsent. – „in seinem Zentrum ruhen“ – „leichter sein, sich leichter bewegen“.
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    2. Im Stehen ist der Schwerpunkt in mir und über den Füssen. Das Gewicht spüre ich in der ganzen Fusssohle gleichmässig verteilt (hinten + vorne + aussen + innen). Das Becken befindet sich unter dem Schultergürtel oder dahinter (Hüftgelenksaktivität). Die oberflächlichen Muskeln vor allem des Oberkörpers sind entspannt – auch die Kiefermuskeln, der Nacken und die Zunge – und auch die Füsse (Tiefenaktivität). Siehe auch „Normal Stance“ auf Seite 2 der „Ökonomie der Bewegung“: 1. Füsse beckenbreit und parallel, Sohlen entspannt, Boden spüren. 2. Gewicht innen & vorne auf dem Fuss 3. Knie leicht nach innen 4. Becken wie Schublade nach hinten gleiten lassen. Schambein hängt zwischen den Beinen. Becken ist hinter der Mittellinie. 5. Bauch, Gesäss und Hüfte sind locker. 6. Brustbein schwebt hoch und vorne. (NICHT hochziehen. Wie drittes Auge dort, das auch gerade nach vorne blicken kann.) 7. Schultern hängen frei, sind nicht nach hinten gezogen. 8. Kopf sitzt frei oben drauf – wie Boje. Blick nicht fixiert, sondern offen. Auch Ohren offen und wach. VON UNTEN BEGINNEN! Das Gleichgewicht im Stehen ist labil – machen Sie durch feine Bewegungen etwas Dynamisches daraus. Testen Sie als gutes Beispiel das optimal ökonomische Stehen am Stehpult.
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    3. Im Gehen und Laufen spüre ich, wie mich das Gewicht des Oberkörpers nach vorne zieht (der Schwerpunkt ist etwas vor dem Körper,…). Brustbein gleitet waagrecht nach vorn; das Gewicht des Oberkörpers ist der Motor; Oberkörper und Becken bewegen sich gleichmässig und ruhig; die Beine schwingen von selbst aus dem Bauch, wie aufgehängt am Rippenbogen; die Füsse werden ohne Zutun von der Ferse bis zu den Zehen federartig gespannt. >>> ansonsten alle Punkte wie unter Stehen!
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    4. Im Sitzen: Füsse flach am Boden (eher etwas auseinander und parallel >>> Knie fallen nach innen >>> Sitzbeine gehen auseinander >>> Beckenboden wird passiv gespannt) >>> VOR Sitzbeine sitzen >>> Becken ist entspannte Schüssel mit flachem Boden. >>> sonst alles wie im Stehen. Auch im Sitzen immer wieder mal die Haltung wechseln und etwas Dynamisches daraus machen.

    Warum stehen viele Menschen nicht im Gleichgewicht – mit dem Becken vor dem Lot und dem Oberkörper nach hinten gedehnt (und fallen so immer leicht nach hinten, resp. müssen sich mit oberflächlichen Muskeln (v.a. Bauchwand und vordere Oberschenkel) vor dem Nachhintenfallen retten?? Diese obige Haltung „rastet richtig gehend ein“ (in den oberflächlichen Muskeln und Bändern): Man fühlt sich „stabil“ wie in einem Liegestuhl liegend. Dies ist aber eine „Pseudo-Stabilität“. Die Gleichgewichtsstellung ist hingegen ein etwas labiles Pendeln um den Gleichgewichtspunkt, ein leichtes Falten (siehe auf Seite 1 der „Ökonomie der Bewegung“.). Hier ist zu erwähnen, dass v.a. im Stehen und im Sitzen (zwei schwierige Haltungen des Zweibeiners Mensch) die Stellung häufig etwas verändert werden sollte. Dies bringt mehr Leichtigkeit, Bewusstheit und Entspannung in das Ganze.

    Leichtigkeit und Gleichgewicht ergibt Inneren Frieden

    Mehr über den Inneren Frieden >>>

    Bewegungsmeditation für ein besseres Gleichgewicht (Zentriertheit)

    Die „Bewegte Stille“ ist eine vierphasige Bewegungsmeditation, bestehend aus Niederwerfung, Windrose, Wirbeln und einer Hinführung in die Stille. Dabei werden die vier Schlüssel zur Lebendigkeit verwendet: Bewegung, Atem, Stimme und Achtsamkeit:

    Slackline

    «Slackline»: So heissen die elastischen Bänder, die man immer häufiger in Parks zwischen zwei Bäumen aufgespannt sieht. Darauf zu gehen, fördert die Reaktionsfähigkeit, die Koordination und das Gleichgewicht. Dabei gilt: Je länger die Leine, umso schwieriger wird es, sich möglichst lange darauf zu halten. Immer mehr vor allem junge Menschen entdecken den Spass auf der langen Leine. Manche entwickeln sich dabei zu wahren Akrobaten: Sie springen darauf wie auf einem Trampolin und machen Saltos. Dabei landen sie entweder wieder mit den Füssen auf dem Band, auf Rücken, Bauch oder Po. Letztes Jahr fanden in Zürich die ersten Schweizer Meisterschaften im «Slacklinen» statt. In den Schulen werden sie viel häufiger gebraucht, da sich gegenüber früher die koordinativen Fähigkeiten der Schüler drastisch verschlechtert haben. Die elastische Leine ist dafür das passende Trainingsgerät, weil es daneben erst noch Spass macht. Zudem wirkt es erfrischend auf das Gehirn, wenn man zuvor und nachher konzentriert gearbeitet hat. Balancieren auf der Leine hilft beim Abschalten. Samuel Volery und Tobias Rodenkirch, Studenten der Bewegungswissenschaften an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich, konnten in ihrer Masterarbeit bestätigen: Balancieren auf der «Slackline» fördert auch die Konzentrationsfähigkeit. Sie haben sogar nachgewiesen, dass dieser Effekt einen Monat später noch vorhanden war, auch ohne das Training. Grund: Das Hirn macht einen Lernprozess durch. Von dem Training profitieren aber auch ältere Menschen: In einer Studie liessen deutsche Wissenschaftler der Uni Osnabrück Senioren im Alter zwischen 60 und 72 zweimal pro Woche während 20 Minuten auf dem Band üben. Mit Erfolg: Schon nach drei Wochen Training stellten die Forscher eine deutlich verbesserte Gleichgewichtsfähigkeit fest. Ein gutes Gleichgewicht ist für Senioren zentral, um im Alter mobil und unabhängig zu bleiben.

    Warum ein flacher, schöner Bauch im Alltag entspannt sein sollte

    Warum man im Alltag die äusseren (tastbaren) Bauchmuskeln mit Vorteil entspannt loslassen – und nur die tiefste Schicht (den Transversus-Muskel) gebrauchen sollte:

    Wir Menschen neigen im Leben zur steten Verkürzung im Oberkörper an der Vorderseite und entwickeln im Alter häufig einen Rundrücken, da wir noch immer den Oberkörper eines Vierbeiners besitzen. Diese haben sinnvollerweise die Hinterwand des horizontalen Oberkörpers verstärkt (Wirbelsäule und starker Rippenkasten hinten), da dort dann all seine Organe aufgehängt sind.

    Ein Körperteil, der lange Zeit aufrecht ist, verstärkt sein Gleichgewicht mit einem zentralen Pfeiler. Wir sind noch zu wenig lang auf zwei Beinen – und deshalb liegt unsere Wirbelsäule im Brust- und Bauchraum noch immer hinten. Viel ökonomischer wäre in der Mitte – was im Hals übrigens bereits geschehen ist, da die Hälse bereits im Tierreich immer aufrecht sind. Bei uns Zweibeiner wird deshalb die Vorderseite und – verheerender – der ganze Innenraum im Bauch und Brustraum gestaucht (viele Hohlräume, Luft und Wasser!). Damit wird u.a. unsere Bauchwand nach aussen gedrückt und muss ständig durch eine angespannte äussere Bauchwand gehalten werden, was wiederum unsere Vorderseite massiv verkürzt!

    Nie mehr Rumpfbeugen!

    Nun hat es auch die US-Army gemerkt, dass Rumpfbeugen starke Rückenschmerzen verursachen und haben diese komplett aus sämtlichen Fitnessprogrammen gestrichen! Das Auftrainieren der oberflächlichen Bauchwand (M. Rektus Abd. und Mm. Obliquii) führt immer zur Verkürzung der Frontallinie und damit zur Kompression in der Lendenwirbelsäule!

    Ein schöner, wohlgeformter, flacher Bauch kann nur erreicht werden, wenn vor allem der Rektus-Bauchmuskel entspannt und lang bleiben kann. Dies wiederum ist nur – wie oben beschrieben – durch die drei Eigenschaften des Gleichgewichts des menschlichen Körpers möglich.

    Zudem neigen die oberflächlichen Muskeln, die meist dünner, flächiger, mehrgelenkig sind und kühler haben, auch zu Verkürzungen und Verspannungen. Man sollte also nie die externen Muskeln, die für dynamische Aufgaben gedacht sind (Globales System) zu statischen Aufgaben gebrauchen. Ideal dazu sind nur die isometrisch und entspannt tätigen tiefen Kernmuskeln (Lokales System).

    Bauchmuskelübung für den tiefsten M. Transversus Abd.>>>

    Auch der Aufsteller Mady Morrison hat ein kompetentes und sehr schönes Workout für die tiefen Core & Abs:

    Gleichgewicht bei sportlichen Aktivitäten >>>
    insbesondere beim Joggen >>>
    Lernen des Gleichgewichts durch ROLFING >>>

    Veröffentlicht am 17. Juni 2017 von Dr. med. Thomas Walser
    Letzte Aktualisierung:
    26. Januar 2025

  • Haltung im Sport

    Haltung im Sport

    Tiefe Rumpfstabilisatoren zuerst

    Hier will ich häufig angewendete Sportübungen und Sportarten nach den Gesichtspunkten der Ökonomie der strukturellen Bewegungslehre betrachten.
    Jedes gute Kraft- oder Haltungstraining und jede optimal ausgeübte Sportart beginnt mit der Aktivierung des sog. Lokalen Systems, also der tiefen Rumpfstabilisatoren (Beckenboden, tiefe Bauch- und Rückenmuskeln). Erst wenn diese aktiv sind, können die globalen, oberflächlichen Hüllmuskeln ökonomisch und entspannt arbeiten!

    Bauchmuskeltraining
    Fussball
    Gewichtheben
    Golf
    Jogging
    Klettern
    Klimmzüge
    Kniebeuge / Halbe Hocke
    Liegestützen
    Reiten
    Radfahren
    Tennis
    Schwimmen
    Seilspringen
    Skilaufen (Langlauf, Tourenlaufen, Alpin)
    Sit-ups / Bauchmuskelübungen
    Wandern

    Liegestütze

    Die Ellbogen sollen seitlich nach aussen gehen und dabei bleibt der Rumpf zuerst ruhig und die Höhe des Schultergürtels wird möglichst lange eingehalten. Denken Sie an „auseinander“ und nicht „nach unten“. Diese Phase möglichst langsam ausführen. Es ist die wertvolle exzentrische (negativ dynamische) Kraftphase.
    Die Fersen zeigen etwas zu den Seiten, der Kopf sieht frei beweglich nach unten oder sogar etwas nach vorne (nicht kurz werden im vorderen Brustbereich) und das Becken (oder die Sitzbeinhöcker) bleibt immer der höchste Punkt des Körpers. Der Abstand vom Schambein bis zum Brustbein bleibt möglichst lang.
    Wieder zurück, beim Nach-Oben-Gehen beginnt die Bewegung in den Sitzbeinhöcker, die sich  zuerst nach oben heben. Diese konzentrische (positiv dynamische) Kraftphase schnell und kurz machen.
    Oben angekommen 2-3 Sekunden innehalten (isometrische Kraftphase).

    Sit-ups / Bauchmuskelübung

    1. Rectus: verkürzt die vordere Körperlinie des Oberkörpers (=Hauptfehler bei den Bauchmuskelübungen!) >> Achtung: Six-Pack nie ohne Hauptaktivität des tiefen, queren Transversus!
    2. Obliquus Externus und
    3. Obliquus Internus sind die beiden schrägen Bauchmuskeln, die bereits eine bessere Bauchwandstabilität ergeben (nie Rectus allein!)
    4. Transversus = querer, tiefster Bauchmuskel und der wichtigste von allen! Hält die Bauchwand ohne Verkürzungen am schönsten nach hinten!

    Das Ziel ist also, in der Bauchwand lang zu bleiben und nicht zu verkürzen (spätere Spitzbauchbildung!). Es darf kein Hohlkreuz entstehen. Dort soll es eher wie eine Schale gegen hinten rund werden und eng bleiben. Und das Schambein sollte nie in Richtung Kinn gezogen werden.
    Man legt die Unterschenkel mit 90-Grad-gebeugten Hüft- und Kniegelenken auf einen Stuhl und hebt den Kopf in einer Linie mit dem Brustbein nur sehr wenig. Verkürzen Sie dabei nicht die vordere Linie vom Kinn zum Schambein.
    Der rechte Ellbogen (bei angewinkelten Armen) geht nur wenig und eher schnell und kurz (da konzentrische Muskelaktivität) gegen das linke Knie und umgekehrt.
    Dann 2-3 Sekunden Stellung halten (isometrisch) und wieder sehr langsam zurück in die Liegestellung (exzentrisch).
    Auch die klassische Übung zur Tiefenaktivierung der Rumpfstabilisatoren ist eine ausgezeichnete Übung für die tiefste Bauchmuskelschicht, den M. Transversus Abdominis:
    Man liegt entspannt auf dem Rücken, Beine ausgestreckt, das Kreuz nicht auf den Boden drücken, Arme seitlich des Körpers, Nacken entspannt, Kopf auf beide Seiten drehen und wieder zurück zur Mitte, Blick offen und entspannt zur Decke gerichtet (keinen fokussierten, starren Blick).
    Nun stellt man den rechten Fuss an (linkes Bein bleibt ausgestreckt). Die rechte Fusssohle (auf dem Boden) wahrnehmen. Der Fuss ist weich und entspannt. Das rechte Knie verlängert sich langsam in den Raum raus.

    Durch diese Bewegung hebt sich die rechte Beckenhälfte unwillkürlich vom Boden ab – ohne aktives Tun.
    Bei dieser Übung gibt es vom entspannten Beckenboden her, eine Rotation des Rumpfes nach links (Wirbel für Wirbel langsam nach oben). Wenn diese Drehung auf der Höhe des Zwerchfells angelangt ist, nimmt man den rechten Arm dazu, der wie von einem Magneten (in die linke obere Wandecke) gezogen wird. (Achtung: Schulter und Hals sollen entspannt bleiben). Wenn der Kopf vom Boden abheben würde, stoppt man die Armbewegung. Man lässt den Arm einen Moment in dieser Position wie eingefroren stehen.
    Nun spürt man das Becken schwer werden und lässt es langsam zum Boden zurücksinken. Wirbel für Wirbel kommen zum Boden zurück bis die ganze Wirbelsäule ausgestreckt am Boden liegt. Gleichzeitig bewegt sich die rechte Schulter und der Oberarm, Unterarm.. zurück in die Ausgangsposition.

    –   Während der ganzen Übung entspannte Atmung und Bewegungsfluss.
    –   Übungen jeweils zwei- bis dreimal wiederholen, dann Seite wechseln.

    Klimmzüge

    Schultern innen unten lassen – Stange nur zu sich ziehen – am Schluss ist man überrascht, dass man mit dem Kopf über der Stange ist…

    Kniebeuge (Halbe Hocke: Gewichtheben)

    Bei der Kniebeuge ist wichtig, dass nur die Weichteile der Beine trainiert und das Kniegelenk selber und der ganze Rücken möglichst geschont werden. Die oberflächlichen Muskeln im ganzen Oberkörper sollten entspannt bleiben und die Aktivität der tiefen Rumpfstabilisatoren zunehmen. Dies erreicht man in der sog. „Halben Hocke“, der Haltung, die auch ideal und maximal Rücken entlastend beim Heben von Lasten ist (physiopraxis 2011; 9(1): 30-33). Deshalb kann dies auch als beste Haltung für das Gewichtheben angesehen werden.

     
     
     
     „Ganze Hocke“
    Wurde in der „alten Rückenschule“ noch als richtig gelernt. Entspricht der alten Vorstellung, dass eine „Korsett-Bildung“ (Gebrauch und Training der oberflächlichen Rumpfmuskeln) günstig („entlastend“) für den Rücken sei.Heute weiss man, dass eben diese Haltung im argen Ungleichgewicht eine Tiefenaktivierung verhindert und den Zwischenwirbelraum arg komprimiert!
    „Halbe Hocke“Im Gleichgewicht mit entspannter Oberfläche und optimalster Aktivierung der tiefen Rumpfstabilisatoren. Damit die kleinste Kompression und Verkürzung des Wirbelraums – grösste Rückenschonung!

    Stellen Sie dazu die Füsse beckenbreit auseinander und parallel (nicht zu weit auseinander und auch keine nach auswärts gedrehte Füsse, wie man häufig auf erläuternden Fotos sieht). Dann gehen Sie zuerst in die Hüften und noch nicht in die Knie (Man sollte also eher „Hüftbeuge“ sagen!). Dies erreichen Sie am besten und mit grösster Entspannung der  oberflächlichen Muskeln des Oberkörpers, indem man sich das Becken als eine Schublade vorstellt, die sehr entspannt und leicht horizontal nach hinten gleitet.
    Bauchwand, Gesäss und Hüften sind locker (Die Tiefe, nämlich der Transversusmuskel, etc. sind dann automatisch sehr aktiv.).
    Der Schultergürtel befindet sich immer etwas weiter vorne als die Knie. Die Hüftgelenke sind also immer etwas mehr gebeugt als die Knie. Dadurch kommt das Gewicht in den Füssen automatisch mehr auf den Mittel- und Vorfuss: Die ganze Fuss-Längsfeder wird gespannt. Die Hüftfederung und diese Fussfeder entlasten die Knie enorm.
    Das Brustbein bleibt senkrecht und vorderster Punkt des Körpers. Der Kopf sitzt wie eine Boje auf der senkrechten Halswirbelsäule und der Schultergürtel liegt entspannt wie ein leichtes Joch auf dem Rumpf. Der Oberkörper bleibt so in seiner vorderen Mittellinie sehr lange und die Wirbelsäule sehr gerade.

    Auch bei der Kniebeuge stellt man sich vor, man würde eine Kiste heben, die vor einem auf dem Boden steht. Man kommt dazu vor allem aus der Hüftbeugung und weniger aus den Knie mit den Händen bis an den Boden.
    Die Retourbewegung nach oben startet dann in den Füssen. Man stösst dabei vom Boden ab, indem man zuerst die Knie nach hinten bewegt und dann erst die Hüften nach vorne. Der Oberkörper macht dabei möglichst wenig Arbeit und bleibt vor allem in der Oberfläche (Bauchwand, Gesäss, Schultern,…) völlig entspannt.

    Seilspringen

     
    Man springt in einer akzentuierten Faltbewegung (wie hier ausführlich beschrieben): Vor allem das Becken, der Po ist weit hinten damit die Hüftgelenke gut federn können. Der Oberkörper wird dann aufrecht (Brustbein senkrecht), die Schultern entspannt und nicht nach oben gezogen. Der Kopf liegt leicht wie eine Boje auf dem Hals – der Blick locker und nicht fixiert in die Weite zum Horizont.
    Man landet nicht auf der Fussspitze, sondern auf dem ganzen Fuss, der dadurch wie eine Längsfeder gespannt wird und wieder abfedert.
    Seilspringen ist eine wunderbare Art, Haltungsverbesserung, Konditionssteigerung und Aktivierung der tiefen Rumpfstabilisatoren mit einfachsten Mitteln und auf engstem Raum zu praktizieren!

    Jogging

    Jogging, wie auch das ökonomische, natürliche Gehen und Wandern habe ich sehr ausführlich hier beschrieben >>> www.dr-walser.ch/jogging/
    Dazu übers Marathonrennen.
    Dann über die diversen Lauf-Mythen.

    Wie läuft’s denn bei Ihnen so?!
    Gehen Sie Ihrem Jogging-Stil  (auch in english) auf den Grund und optimieren Sie Ihr Training Schritt für Schritt. Für optimale Gelenkschonung und begeisternde Lauf-Effizienz gebe ich auch stundenweise persönliches Training (zuerst eine Stunde Theorie und persönliche Anwendung von Haltung und Bewegung + dann eine Stunde gemeinsames Jogging):
    Anmeldung nur mit Mail:

    Reiten

    Die Fussspitzen zeigen eher etwas gegen das Pferd. Die Sitzbeinhöcker sind weit hinten, das Brustbein weit oben und vorne (ohne die Schultern zurückzuziehen): Der Brustraum wird dadurch vorne konvex und lang und die Halswirbelsäule gerade mit bojenartig balancierendem Kopf. Der Schultergürtel liegt wie ein leichtes Joch auf dem Rumpf und die Arme hängen frei in den Schultern.
    Der Schenkeldruck kommt aus dem Po. Das Becken wird dadurch hinten weit, die Sitzbeinhöcker zeigen etwas nach aussen.

    Radfahren

    Man sitzt in einer Zickzacklinie auf dem Sattel: Die Knie und Füsse eher leicht nach innen gedreht, Po und Sitzbeinhöcker weit hinten, gebeugt in den federnden Hüftgelenken, das Brustbein senkrecht oben und vorne (konvexe Mittellinie), der Kopf und der Schultergürtel locker aufliegend. Die Arme hängen auch locker in den Schultergelenken und liegen ohne viel Druck auf dem Lenker. Die Ellbogen sind mehr oder weniger gebeugt und aussen. Die Bauchwand ist entspannt (damit bleibt man vorne lang). Man hängt wie in den “Gummibändern” des muskulär entspannten Po (im vielen Bindegewebe dort: Muskelfaszien, Sehnen, Bänder…).
    Dienlich wären also Sattel und Lenker, die genügend weit voneinander entfernt sind und ein Sattel, der etwa 5 Grad nach vorne unten zeigt.
    Mit dieser Faltbewegung kommt der Schwerpunkt des Oberkörpers schön über die Füsse, resp. Pedale und die Schwerkraft kann so ideal ausgenützt werden. Die Hüftgelenke können alles abfedern und damit den Rücken enorm entlasten. Die “Hülle” im Oberkörper ist ziemlich entspannt. Das was alles “zusammenhällt” ist die Tiefenaktivität der Rumpfstabilisatoren.
    Auch bei dieser Art von Bewegung sollte Ihr Körper möglichst ruhig durch den Raum schweben, ohne Hin und

    Taube Finger beim Radfahren
    Nach der Velotour vergeht vielen der Spass am Velofahren: die Hände schlafen ein oder die Finger fangen an zu prickeln. Das passiert, wenn die Hand eine unnatürliche Position am Lenker hat. Das ist der Fall, wenn der Lenker keine Krümmung hat. Dann bilden Unterarm und Hand nicht mehr eine Linie, sondern machen beim Handgelenk einen Knick. Es kommt zu einem dauerhaften Überdehnungsreiz der Muskeln an der Unterseite des Handgelenks. Gleichzeitig fliesst das Blut nicht mehr ausreichend in die Hand. Das Abknicken reizt auch Nerven, die durch den engen Karpaltunnel verlaufen.
    Die Lösung ist einfach: Der Lenker sollte leicht nach innen zum Fahrer gebogen sein, im besten Fall etwa 15 Grad. Das verhindert, dass sich das Handgelenk abknickt.
    Der Griff sollte zudem nicht flach und zu hart sein, sondern die Passform der Innenhand übernehmen. So bietet er eine möglichst grosse Auflagefläche. Das Gewicht des Oberkörpers verteilt so sich auf der ganzen Handinnenfläche. Gefütterte Velohandschuhe brauche es nicht.
    Bei längeren Fahrten auf Mountain- oder Treckingbikes ist es von Vorteil, wenn man sich Lenkerhörnchen an den Lenker montiert: Diese stehen vom Griff ab und entlasten das beanspruchte Gelenk. Zudem nimmt man eine andere Haltung an, dies entlastet den ganzen Körper.

    Tennis

    Beim Rückhandschlag stehen Sie „normal“ (oekonomie_der_bewegung.pdf, Seite 3) und befinden sich im Falten. Lassen Sie wie immer zuerst den Bauch los, so dass das Becken nach hinten zu gleiten beginnt. Als Rechtshänder lassen Sie es dann gezielt über das rechte Bein nach rechts gleiten. Den Oberkörper lassen Sie mit dem Brustbein voran nach vorne links fallen; er wird vom Becken in die Drehung mithineingezogen. Das entlastete linke Bein schwingt mit dem Knie voran nach links vorn, mit dem rechten Fuss strecken Sie sich jetzt kräftig gegen den Boden und beschleunigen damit den Körper in Richtung zum Ball.
    Üben Sie diese Bewegung zuerst langsam und konzentrieren Sie sich darauf, dass Ihr Schwerpunkt sich waagrecht bewegt und Ihr Körper länger wird. Später lassen Sie die Bewegung blitzschnell und automatisch ablaufen.
    Die Bewegung des rechten Armes erscheint als Folge der Rumpfbewegung. Er wird vom Rumpf in die Drehung mitgezogen und schwingt so von selbst passiv zurück, statt dass Sie den Schläger zurückreissen.
    Der Schlag erfolgt, indem Sie sich gegen den Boden strecken. Als erstes weicht dadurch das Becken erneut etwas zurück. Dann drücken Sie den rechten Fuss kräftig gegen den Boden, so dass die Sitzbeinhöcker noch stärker hinten in die „Faszien-Gummibänder“ der Pomuskeln hineingedrückt werden. Gleichzeitig wird der Rumpf als Ganzes nach vorn beschleunigt. Sie drehen sich dabei leicht nach rechts zum Ball hin, wobei die linke Hüfte anfänglich zurückbleibt. Dann schwingt der rechte Arm mit dem Schläger unter dem Oberkörper hindurch nach vorn zum Ball. Die ganze Kraft des Schlages kommt „aus dem Boden“, wenn sich der Körper streckt. Damit diese wirklich vorn beim Schläger ankommt, muss sich der Körper in der Zickzacklinie befinden und die Mittellinie des Rumpfes nach vorne konvex sein.
    Beim Aufschlag ergibt sich die seltene Situation, dass sich die Hüftachse vorn befindet. Der Körper ist als Ganzes nach vorn durchgebogen. Damit kann eine zusätzliche Beschleunigung erreicht werden. Weil dafür der Körper möglichst lang sein muss, müssen alle Muskeln der konkaven Körperrückseite, aber auch die der konvexen Vorderseite völlig entspannt sein. Dann spüren Sie, wie Sie mit Ihrem Gewicht vorne in die Körperfaszie hineinlehnen und diese dehnen. Wenn das Schambein tief steht, stehen Sie richtig.
    Ausgelöst wird die Aufschlagbewegung durch die elastische Spannkraft der Faszien vorn. Diese beschleunigen das Becken nach hinten. Sobald es die Senkrechte passiert hat, kommt die Schwerkraft hinzu, die das Becken zusätzlich nach hinten antreibt. Der nach vorne konvexe Rumpf kippt gleichzeitig nach vorn. Als drittes fügen Sie schliesslich noch die muskuläre Endbeschleunigung hinzu. Der Rumpf wird wie eine Peitsche von unten nach oben nach vorn beschleunigt, wobei aber das Becken als sein unteres Ende zurückgeht.

    Über die Prävention des Tennisellbogens lesen Sie hier über die Entspannung der Armstrecker hier in meinem Blogbeitrag.

    Golf

    Prüfen Sie, ob die Zickzacklinie und die Mittellinie des Rumpfes stimmen (oekonomie_der_bewegung.pdf, Seite 3). Um auszuholen, strecken Sie sich gegen den Boden. dafür entspannen Sie zuerst alle Muskeln, der Körper setzt sich dadurch deutlicher auf den Boden, das Becken schwingt etwas zurück.
    Die gleichzeitige Drehung nach rechts lösen Sie aus, indem die linke Hüfte zunächst etwas nach links hinten geht. Die Diagonale von linker Hüfte über Bauch und Brust zur rechten Schulter verlängert sich, und der Rumpf hängt etwas stärker nach vorn in die Körperfaszie hinein.

     
    Die Arme steigen, geführt von den Ellbogen (bildlich wie ein Gewicht, das am Ellbogen hängt und die Schwingung des Armes auslöst), nach rechts hoch. Sie sollten spüren, dass diese Bewegung eine Folge der Gegenbewegung der linken Hüfte und des Beckens ist. Ihr Körper wird lang, Ihre Füsse bleiben am Boden „kleben“, das Schambein hängt tief.
    Wenn der Schläger den höchsten Punkt erreicht hat, können Sie Ihren Körper wie beim Tennisaufschlag (siehe oben) als Ganzes nach vorne durchbiegen. Entspannen Sie bewusst alle Muskeln des Rückens und der Vorderseite des Körpers. Das Gewicht des Rumpfes ruht jetzt vorwiegend auf dem rechten Bein.
    Die Schlagbewegung wird passiv von den gedehnten Faszien der Körpervorderseite ausgelöst. Sie treiben das Becken zurück und kippen zugleich den Rumpf nach vorn, wobei dessen Mittellinie nach vorne konvex bleiben muss (Brustbein steht senkrecht vorne oben). Nachdem Sie die Senkrechte passiert haben, wird die Bewegung von der Schwerkraft weitergeführt und verstärkt.
    Die gleichzeitige Drehung wird wie immer vom Becken ausgelöst. Lassen Sie die linke Hüfte energisch zurückgehen. Das Becken dreht sich dadurch nach links, während es zurückschwingt, und die linke Hüfte zieht den Oberkörper und den Schultergürtel mit in diese Drehung.

    Als letztes kommen Ihre Arme ins Spiel. Halb fallen sie, wenn Sie im ersten Augenblick die Schultermuskeln entspannen, halb werden sie von der gedehnten Fasziendiagonale zur linken Hüfte gezogen.
    Ganz zum Schluss erst benötigen Sie Ihre Muskeln für die Endbeschleunigung des Schlägers. Die Beugemuskeln der Schultern erhöhen die Geschwindigkeit des Schlägers zusätzlich. Oberschenkel- und Beckenmuskeln verstärken gleichzeitig die Drehung des Beckens.
    Wenn Sie den Ball treffen, ist das Becken mit der Hüftachse deutlich hinten, die Schulterachse ist vorn über dem Ball, die Mittellinie des Rumpfes ist noch immer nach vorn konvex.

    Skilaufen (Skilanglauf, Skitouren, Alpin-Skilauf)

    Skilanglauf (klassisch) und Skitouren sind sehr gut dafür geeignet, Ihren Köper zu dehnen und gerade auszurichten, weil die Füsse durch die Spur in ihrer parallelen Lage gehalten werden. Unterstützen Sie dies, indem Sie die Gesässmuskeln und den Beckenboden ganz entspannt lassen. Die Sitzbeinhöcker stehen dann weit auseinander und hinten, die Knie bewegen sich über innen nach vorn.
    Versuchen Sie, die Hüftachse unverändert im rechten Winkel zur Richtung der Fortbewegung zu halten. Das Becken soll sich also möglichst wenig hin und her drehen. Förderlich ist dabei das Gewicht des Skischuhs und der Skis (vor allem beim Tourenfahren): Das Bein kann damit wie ein Pendel aus den Hüftgelenken locker und ohne Muskelkraft nach vorne schwingen. Lassen Sie den Fuss mit dem Ski bei diesem Vorschwingen  möglichst am Boden und heben sie ihn nicht an.
    Beim Stockeinsatz achten Sie darauf, dass Ihre Schultern tief und weit aussen bleiben. Ziehen Sie nicht die Schultern nach vorn, sondern das Brustbein, das dann den ganzen Rumpf mit sich zieht.
    Beim Alpin-Skilauf beachten Sie bei allen Bewegungen die Zickzacklinie und die nach vorne konvexe Mittellinie des Rumpfes. Lösen Sie jeden Schwung dadurch aus, dass Sie das Becken über das eine Bein hinaus weit zur Seite gleiten lassen. Der Oberkörper kippt dann leicht zur entgegengesetzten Seite, ist aber recht ruhig und das Brustbein schaut immer ins Tal.
    Versuchen Sie es mit folgender Vorstellung: Ihr Oberkörper soll sich mit der Brust immer geradeaus genau in der Falllinie zu Tal bewegen. Mit Ihren Skiern kurven Sie nach links und nach rechts hinaus um diese gerade Linie herum. Dafür müssen Sie vor allem das Becken weit zur Seite schwingen lassen.

    Klettern

    Zuallererst immer in Support, d.h. in die Füsse und zum Boden gehen (sehr gut auch gegen die Angst) – nicht gleich in die Hände: d.h. Entspannung in Bauchwand, Hüften, Po und Vorderseite der Beine >>> Fuss wird länger und sinkt – man kommt ins Folding, in diese Faltbewegung (wie hier u.a. beschrieben: oekonomie_der_bewegung.pdf) und der Oberkörper wird automatisch länger…

    Schwimmen

    Das übliche Brustschwimmen ist die technisch schwierigste Disziplin. Sie können kaum schwimmen, ohne das Kreuz und das Genick zu stauchen. Wenn Sie regelmässig schwimmen, sollten Sie sich unbedingt von einem guten Schwimmlehrer Crawlen (oder Rückenschwimmen) beibringen lassen.
    Schwimmen ist deshalb günstig, weil der Körper nicht von der Schwerkraft zusammengedrückt wird. Achten Sie darauf, dass Ihr Körper immer möglichst lang bleibt und dass sich seine Mittellinie möglichst gerade und gestreckt durchs Wasser bewegt. Als Vorübung ist hier das Abstossen vom einen Schwimmbadrand und, ohne aktive Bewegung ausgestreckt, möglichst langes Pfeilen durchs Wasser sehr nützlich.
    Beginnen Sie die Crawl-Bewegung mit dem Ellbogen des oberen Armes, der wie von selbst aus dem Wasser gezogen wird.
    Bei der Beinbewegung sollen der Bauch und die Leisten ganz entspannt und lang bleiben, die Knie sollen nahe beieinander und leicht einwärts gedreht sein. Wenn Sie den Arm über der Wasseroberfläche nach vorne bringen und wenn Sie Hand und Unterarm unter Ihrem Körper hindurch durchs Wasser zurückziehen, sollte die Schulter tief und aussen bleiben.

    Fussball

    Wie bei vielen ähnlichen Wettkampfarten sollte sich der Körper jederzeit in jede beliebige Richtung in Bewegung setzen können. Falten liefert das dafür nötige „labile Gleichgewicht“, wobei Sie fast ganz gestreckt sein oder sich tief in der Zickzacklinie befinden können. Sie „opfern“ den ersten Bruchteil einer Sekunde, um sich fallen zu lassen. Sie sinken dabei jedoch kaum, eher geht Ihr Körper in die Länge wie eine Katze, die sich vor dem Sprung duckt. Das Becken beginnt zurückzuschwingen, das Brustbein fällt nach vorn, die Beine sind einen kurzen Augenblick lang völlig schlaff. Die Füsse werden breiter und flacher gegen den Boden gepresst. Diesen Druck verstärken Sie weiter, so dass der Rumpf als Reaktion nach vorn losschnellt.

    Beim Starten können Sie nur optimal beschleunigen, wenn Sie sich gegen den Boden strecken. Sobald Sie irgendwo Muskeln kontrahieren, nehmen Sie Gewicht vom Boden weg, der Krafteinsatz wird ineffektiv. Achten Sie vor allem darauf, dass der Rumpf und damit der Körperschwerpunkt nicht hochsteigt. Das würde bedeuten, dass Sie nur Energie verschwenden.
    Sie starten nach vorn, indem Sie das Becken zurückweichen und das Brustbein sofort energisch nach vorn fallen lassen (es bleibt dabei aber senkrecht stehen). Erst dann drücken Sie den Fuss des Standbeins gegen den Boden, wodurch der Rumpf waagrecht nach vorn beschleunigt wird.
    Rückwärtsstarten beginnt genauso: Sie lassen sich „auseinanderfallen“. Der Schwerpunkt sinkt ganz leicht, das Becken schiesst zurück. Sie beschleunigen, indem Sie mit dem vorderen Fuss gegen den Boden drücken. Denken Sie nicht „hoch“ und „weg vom Boden“! Reissen Sie auf keinen Fall den Oberkörper zurück! Lassen Sie sich einfach von den Sitzbeinhöckern geführt zurückziehen.
    Sie stoppen die Bewegung auf ähnliche Weise. Lassen Sie im Vorwärtsrennen für den Bruchteil einer Sekunde alle Muskeln los, so dass Sie zu fallen beginnen. Das Knie des vorderen Beines wird vom andrängenden Gewicht des Körpers massive gebeugt, und die Kniestrecker (vor dem Knie) müssen mit aller Kraft dagegenhalten, um die Bewegung zu stoppen. Sie verrichten ihre Arbeit dann am effektivsten, wenn das Becken weit hinten, tief und nach vorne gekippt bleibt. Dafür müssen die Bauchmuskeln und die Hüftstrecker (am Po) völlig entspannt bleiben; Sie spüren deutlich die Zickzacklinie und die nach vorn konvexe Mittellinie des Rumpfes (oekonomie_der_bewegung.pdf ). Stören Sie diesen Mechanismus möglichst nicht durch unnütze Muskelkontraktionen. Das Bein bremst die Bewegung ab, nicht der Bauch!
    Auf die gleiche Weise starten Sie zur Seite und stoppen die Bewegung ab. Sie lassen den Körper einen Moment fallen und strecken sich dann seitlich gegen den Boden.
    Vergleichen Sie beim Torschuss die „normale Bewegung“ (siehe hier ) mit der üblichen. Wenn Sie normal schiessen, weicht zuerst das Becken leicht zurück, bevor das Knie unter der Hüfte hindurch nach vorne schwingt. Der gestreckte Rumpf liegt locker über dem Ball, der genau dorthin geht, wo Sie ihn haben wollen.
    Auch der Torhüter steht bei der Abgabe des Schusses, den er halten will, „locker gefaltet“ in der Zickzacklinie mit konvexer Mittellinie des Rumpfes da und ist so frei, sich vom Boden aus in jede beliebige Richtung zu werfen!

    Ein wunderbares Beispiel der obigen Haltung und Bewegung ist natürlich Lionel Messi mit seiner geschmeidigen, katzenartigen Bewegung während seiner Dribblings. Sein unnachahmlicher Stil kennt sogar ein eigenes Adjektiv: „inmessionante!“.
    Hier ein paar Müsterchen:

    Viele Ideen die ich hier benütze, sind von meinem Freund und Kollege Hans Flury (vor allem aus seinem Buch „Die neue Leichtigkeit des Körpers“) und auch von Willi Harder, der viel zu jung gestorben ist – geniale Köpfe, die das Rolfing wieder viel näher zu den Visionen der Ida Rolf gebracht haben.

    Noch ein Superlink zur Ergänzung:
    Mein favorisierter Zugang zu Yoga sind die wunderbar geführten Yogaflow-Sessions von Mady Morrison

    Veröffentlicht am 16. Juni 2017 von Dr. med. Thomas Walser
    Letzte Aktualisierung:
    13. April 20241

  • Geplauder mit Hans Flury

    Haben wir vielleicht einfach ein viel zu grosses Hirn für unser Glück?

    Dr.med. Hans Flury, geb. 1945, studierte in Zürich Medizin. Dort praktiziert er seit 1978 als anerkannter „Rolfer“ die Strukturelle Integration nach Ida Rolf und die von ihm entwickelte Bewegungsschule der normalen Bewegung (Normal Function – Lit.2). Er nennt sich selbst einen Psychoanarchisten.

    lieber hans 

    mir schwebt ein projekt vor, ein lockeres gespräch mit dir – stück für stück – über haltung, bewegung, rolfing, wissenschaft, philosophie, nonsense – das übliche halt…
    Meine hinterabsicht dabei ist, dies dann hier zu veröffentlichen , quasi als thinktank. Es scheint meine mission zu sein,  gute ideen unters volk zu bringen…

    Dies könnte z.b. so beginnen:

    Lieber Hans,
    zuerst will ich mit Dir über die körperliche Haltung des Menschen sprechen und dort v.a. über den Paradigmenwechsel weg vom Muskel zum Bindegewebe als tragendes Substrat. „Haltung“ ist ja eigentlich ein völlig falsches Wort, da eine ökonomische Haltung (Du nennst  es „Normal Function“) alles andere als mit „Halten“ zu tun hat, welches dann durch Muskeln ausgeführt würde. Eigentlich muss ein Mensch erst mit Muskel halten, falls er aus dem Gleichgewicht gefallen ist. Die Integration, meint hier das Finden des Gleichgewichts ist also das Erste – und dann kann „Losgelassen“ werden, wir können im Gleichgewicht in unserem „Gäder“ (ein sehr malerische Schweizer Wort für das ganze Bindegewebe: Faszien, Sehnen, Bänder) hängen und werden von dem „getragen“. Die Faltbewegung ist ein Musterbeispiel für eine Haltung im Stehen z.B., bei der man im Gleichgewicht alle Muskeln loslassen kann und im Bindegewebe hängt. Kennst Du mein Merkblatt darüber, das ich weitgehend als Extrakt aus deinem spannenden Büchlein „Die neue Leichtigkeit des Körpers“ destilliert habe?! >>> www.dr-walser.ch/oekonomie_der_bewegung.pdf.
    Das Wunderbare dabei ist ja, dass durch diese Art Haltung unser Körper eine Ausdehnung in der Längsrichtung erlebt und nicht gestaucht wird.
    Dieses Ganze hat auch eine philosophische Dimension, die es diesen Ideen wohl auch schwer macht, in der universitären Medizin anerkannt zu werden: Loslassen, Entspannen, Nicht-Machen, Nicht-Kontrahieren und dabei noch ökonomischer werden! Geht natürlich unserer Leistungsgesellschaft gegen den Strich. Deshalb werden wir Mediziner in der Anatomie mit Muskeln überfüttert, lernen ein sehr mechanistisches, muskelzentriertes Bild der Bewegung und hören vom Bindegewebe und von der Schwer- und Normalkraft im Zusammenhang mit Haltung wenig bis nichts.
    Es ist wirklich ein Paradigmenwechsel! Was tun?
    lieber Gruss, Thomas
    (21. Februar 2008)

    Lieber Thomas,
    mein erster Eindruck ist der eines ziemlichen Durcheinanders, es gilt also einiges zu klären. Du benützt als Rahmen den „Paradigmenwechsel“. Der Begriff stammt von Thomas Kuhn, glaube ich. Da ich darüber zu wenig weiss, halte ich mich stattdessen an Gaston Bachelards „Die Philosophie des Nein“ (Lit.3), das Ida Rolf uns ja sehr ans Herz legt (Rolf S. 199, Lit.1). Bachelard stellt fest, dass wissenschaftliche Erkenntnis nicht immer stetig verläuft. Manchmal kommt es zu Brüchen. Er unterscheidet und beschreibt fünf Ebenen oder „Erkenntnisweisen“, die durch solche Brüche geschieden sind. Ida Rolf behauptet wie selbstverständlich, Rolfing sei auf einer höheren Ebene angesiedelt als die Anatomie (Feitis, S. 45-47 – Lit.4). Das bedeutet aber, dass es keinen Weg gibt von der Anatomie zum Rolfing, von der Anatomie des Körpers zur Struktur des Körpers. Anatomie gehört auf Bachelards zweite Ebene, die er die Ebene des Realismus oder Empirismus nennt. Wenn wir uns den Begriff der „Haltung“ näher ansehen, gehört er jedoch eindeutig auf die erste Ebene, diejenige des „naiven Realismus“. „Haltung“ ist also ein sinnloser Fremdkörper im Gebiet der Anatomie und auch der Medizin, jedenfalls soweit sie sich mit dem sogenannten „Bewegungsapparat“ beschäftigt. Das sieht man daran, dass es keine Krankheit wie etwa „schlechte Haltung“ gibt. Aber auch dort, wo sich die Medizin legitimerweise in den Bereich des Gesunden erstreckt, wo sie Risikofaktoren erkennt, kommt „Haltung“ nicht vor. Ich erinnere mich, dass früher zahlreiche Kinder ins Haltungsturnen geschickt wurden, eine Praxis, die still und leise verschwunden ist, soviel ich weiss.
    „Haltung“ ist also nicht einmal in der Medizin ein sinnvoller Begriff, und wo er noch in Gebrauch ist, handelt es sich um einen ideologischen Fremdkörper aus der ersten Ebene. Haltung beruht ja darauf, dass Muskeln arbeiten. Das tun sie immer, auch wenn jemand eine schlechte Haltung hat. Nicht-Haltung würde heissen, dass jemand plötzlich gelähmt ist, dann fällt er hin. Laut Bachelard werden die Erkenntnisse auf der tieferen Ebene jedoch nicht entwertet. „Gute Haltung“ ist deshalb für die Kampfrichter beim Turnen oder Turniertanz möglicherweise ein nützlicher Begriff. Haltung auf der ersten Ebene wird auf der zweiten zu „Muskelkraft“, auf der dritten zu „aktive Spannung“. Leider ist mit dem Gang auf eine höhere Ebene ein Verlust an Anschaulichkeit verbunden, was wahrscheinlich zu dem beiträgt, was Bachelard ein „obstacle épistémologique“ nennt.
    Der Mensch muss sich also immer halten, wenn er nicht gerade liegt, das Muster und der Betrag der notwendigen aktiven Spannung hängen vom Arrangement des Körpers im Raum und seiner Struktur ab.
    Der Mensch kann auch nicht aus dem Gleichgewicht fallen. Man könnte das vielleicht sagen, wenn es sich um ein stabiles Gleichgewicht im physikalischen Sinn handelte. Ein Ball in einer Schale ist ein Beispiel dafür. Wenn der Ball bewegt und dann losgelassen wird, kehrt er von selbst an den Ausgangspunkt zurück – ausser, er wird über den Rand gebracht. Dann würde er was man den Bereich des stabilen Gleichgewichts nennen könnte verlassen. Beim menschlichen Körper handelt es sich jedoch immer um labile Gleichgewichte, da gibt es keinen Bereich, bei dem nicht gehalten werden müsste, ja man kann dieses Gleichgewicht gar nicht genau erreichen.
    Das Wort „hängen“ gebrauche ich nie. Einerseits gibt es das Bild „in den Bändern hängen“, so wie ein groggy Boxer in den Seilen hängt. Wichtiger ist, dass ich jedes mal, wenn ich meinen strukturellen Integrationsgrad wieder einmal erhöhen lasse, das wunderbare Gefühl habe, dass die Füsse völlig am Boden angekommen sind, der mich stützt, ob ich will oder nicht. Ich muss aber zugeben, dass mir die Sache nicht genügend klar ist. Mein Eindruck ist, dass es darauf hinauslaufen wird, dass wir mit guter Struktur im normalen Stehen weitgehend von unten nach oben gestützt sind. Dass, wenn wir „lang“ stehen, die passive Spannung des Fasziennetzes hilft, das System nahe am Gleichgewichtspunkt subtil um diesen Punkt kreisen zu lassen. Wirklich ins Spiel kommen die Faszien aber erst bei Bewegung, beim Falten, beim Gehen und Laufen.
    Ich bin auch anderer Meinung, was die Medizin betrifft. Ich sehe nämlich seit vielen Jahren, dass ich die (westliche) Medizin verteidige. Sie wird ja so viel kritisiert, und in vielem zu Recht. Ich glaube aber nicht, dass man den „Stoff“ erweitern sollte, – er ist ja schon riesig! -, sondern dass es darum geht, sich der Grenzen bewusst zu sein. Eine Grenze ist ja, dass der Patient auch juristisch frei ist, eine Therapie zu wählen, oder auch keine. Wir brauchen schon sorgfältige und zuverlässige Diagnosen, dann kann man offerieren, was die Medizin an Therapie zu bieten hat und darauf hinweisen, dass es sehr viele alternative Möglichkeiten gibt. Und von dem, was ich so höre, hat sich die Situation doch schon gewaltig verbessert.
    Ich hatte diese Woche einen neuen Klienten, der vor 3 Monaten eine Diskushernienoperation hatte. Man sah die Hernie sehr schön im MRI. Nach der Operation teilte ihm der Chirurg etwas betroffen und verlegen mit, er habe in situ eigentlich nichts operationswürdiges gesehen. Wann gab es so etwas schon!
    mit herzlichen Grüssen
    Hans
    (24. Februar 2008)

    Lieber Hans,
    Ich habe es vermutet, dass es eine Knacknuss wird, mit Dir ein einigermassen „verständliches“ und „lockeres“ Geplauder zu führen. Ich, der Vertreter der Vereinfachung, des Volkverstandes und Du der Komplexe, der Streng-Präzise. Sehr gut, dass Du Gaston Bachelard ins Spiel gebracht hast, einen Erkenntnistheoretiker (Epistemologe), der sich also fragte, wie wir Wissen schaffen. Durch ihn sehe ich auch klarer, wie ich der kartesischen Versuchung erliege, die Suche nach Allgemeinheit und Einfachheit stark zu gewichten (Descartes: „Ich denke, also bin ich“). Bachelard nennt dies ein Erkenntnishindernis und gibt seine Auflösung: „Ich denke Differenz, also ändert sich mein Ich“! Nicht zuletzt auch als Hausarzt bin ich in Alltagserfahrungen verhaftet, in welchen Komplexes in Einfaches überführt wird und Du eher in der „Wissen-schaft“, die Einfaches in Komplexes überführt. Dabei sei klar (in Bachelards Sinn) gesagt, dass Wissenschaft nicht „verbesserte“ Alltagserfahrung ist.
    Mein Anliegen – auch in diesem „Geplauder“ – wird also sein: „wie sag ich’s meinem Klienten – und zwar verständlich?“.
    Gregory Bateson würde sagen, dass man als wissenschaftlicher Forscher stets sowohl streng wie auch locker denken soll (strict and loose thinking).
    Dich habe ich immer als ein Rolfer und Denker erlebt, der Ida Rolfs visionäre Ideen und die eher „vorwissenschaftliche“ (heisst kindlich-naive) Interpretation ihrer ersten Schüler mit deiner Lehre der „Normal Function (NF)“ auf den Boden (oder die Füsse) stellst, quasi ins „Surrationale“. Du wirkst vielleicht auch deshalb auf viele Rolfer als „zu kompliziert“, „zu genau“, „zu wenig einfach“, als unverständlich. Für mich war dies aber unheimlich brauchbar in der alltäglichen Arbeit und schuf ein ganz neues Verständnis für Bewegung und Haltung. Der „Verlust an Anschaulichkeit“ wird wettgemacht mit einer Stimmigkeit in der praktischen Anwendung.
    Will heissen: Selber renne ich im Jungfraumarathon mit „normalem“ Laufstil (siehe Lit.6) die 42 Kilometer, inklusive 2000 Höhenmeter von Interlaken auf die Kleine Scheidegg und komme nach 5 Stunden katzenartig und frisch im Ziel an. Und in meiner Rolfingpraxis vermittle ich den Leuten Deine „Merkmale“ der Normalen Bewegung (Lit.5): das Spüren von Gewicht (z.B. der Schwerkraft, die beim ökonomischen, normalen Gehen vor unserer Körperachse liegen sollte und als Bild des Fadens, der uns vom Brustbein aus nach vorne zieht, einleuchtet.), das Spüren der Dehnung (z.B. des „Auseinandergehens“ des Oberkörpers (Brustbein nach vorne, Sitzbeine nach hinten) in der Faltbewegung, NF.) und was Du bereits selbst schön beschrieben hast, das Gestütztwerden von den Füssen aus oder im Sitzen vom Becken aus.
    Warum verwendest Du eigentlich den Begriff „Normal“ (in Normal Function, NF, Normale Bewegung, normal stance, usw.)?
    Wie vermittelst Du dies in Deiner alltäglichen Praxis? Wie bildest Du Verständnis in den Leuten?
    Lieber Gruss, Thomas
    (28. Februar 2008)

    Lieber Thomas
    dein Anliegen, es verständlich zu erklären, ist leider nicht möglich. Ich versuche zu erklären weshalb (falls es möglich ist). Da ist einmal das seltsame Paradox, dass das Einfache schwierig ist, das Komplexe einfach. Vereinfachen kann bedeuten, Komplexität zu reduzieren oder anschaulich zu machen. Das ist ein Widerspruch. Bei „Struktur“ abstrahieren wir vom Funktionellen, es wird weniger komplex, aber abstrakter, also „schwierig“. Nur schon die Definition von „Struktur“ ist ziemlich alltagsfern, nicht anschaulich. Wir können damit dies oder jenes über Struktur und ihre Integration sagen, aber eine erkennbare klare Theorie liegt in weiter Ferne. Dagegen ist die Theorie von NF, also dem Komplexeren, ziemlich abgeschlossen und fast lachhaft einfach. Ich glaube, das hat mit dem zu tun, was man heute „top-down“ Modelle nennt (SI inkl. NF), gegenüber „bottom-up“ Modellen (Anatomie).
    Das Interessante – und Unerklärliche! – ist doch, dass unsere Alltagsvorstellungen, auf denen auch der gesunde Menschenverstand beruht, eigentlich alle grundfalsch sind. Trotzdem funktionieren sie hervorragend – meistens. Wenn einmal nicht, ignoriert man das am besten, oder erfindet Katapulte (dann stimmen aber alle diese Gleichungen nicht mehr). Wenn man auf etwas trifft, das man nicht versteht, gibt es zwei entgegengesetzte Einstellungen dazu. Weitaus häufiger ist die erste, bei der man nach Ähnlichkeiten mit dem Bekannten sucht, und das Unbekannte mit ein bisschen Würgen einordnet. Rolfing ist wie eine Massage z.B. Das ist legitim, führt jedoch nicht zu etwas wirklich Neuem. Daraus folgen Weisheiten wie „Nichts Neues unter der Sonne“ oder „schon die alten Römer…“.
    Die andere Tendenz sucht nach Unterschieden auf die Gefahr hin, dass sich das Ich verändert. Zu diesem Zweck muss man es schwierig machen, sagt Bachelard.  Ansatzweise ist das dann der Fall, wenn wie kürzlich ein Klient auf dem Tisch sagt: „Es kommt mir eher wie Bildhauern vor“. Kurz gesagt, achte ich auf diesen Moment, wenn jemand es verstehen möchte. Dann gebe ich eine kurze Antwort, die teilweise befriedigt, die Frage aber offen lässt. Dann hat der andere die Wahl, ob er weiter ins Neuland vorstossen will oder nicht. Es gibt keinen Grund, weshalb er sollte, es sei denn, er möchte es. Das ist schön!
    Kurz gesagt funktioniert die einfache Erklärung nicht, weil sie das schon lange überholte Kommunikationsmodell vom Sender und Empfänger voraussetzt. Und wir überschätzen das Informationsbedürfnis der Leute gewaltig.
    „Kompliziert“, „zu genau“, unverständlich: ja, es geht nicht anders. Es herrscht ein verbreitetes Missverständnis vor von dem, was Theorie sein soll. Sie soll sich nicht eins-zu-eins mit der Realität decken, sondern sie soll einen Kontrast herstellen zwischen dem Absoluten und dem unverständlichen, chaotischen, unberechenbaren Realen. Theorie verhält sich zur Realität wie die Karte zum Territorium: Wenn du auf einer Strassenkarte die Strassen massstab- und farbgetreu einzeichnest, wirst du sie nicht einmal sehen! Es ist manchmal schwierig, diese Diskrepanz auszuhalten, einen Teil Ungewissheit zu bewahren. Manchmal wird man dann belohnt, wenn auf der neuen Ebene etwas so Schönes, Konkretes, Einfaches auftaucht, wie du es beim Marathon beschreibst. Und da musst du doch zugeben, das kannst du den anderen Läufern nicht anschaulich und leicht verständlich vermitteln.
    Ida Rolf meinte „normal“ wie in „normal structure“ sicher als „ideal“, nicht als durchschnittlich oder natürlich. Sie hatte sicher „die Normale“ im Sinn, ein altes Wort für die Senkrechte, den rechten Winkel. Der Begriff ist also so besetzt. Was mir besonders gefällt, ist, dass es eine willkürlich gesetzte Norm ist, die man akzeptieren kann oder nicht. Man hat die freie Wahl, es gibt keinen Grund und keinen Druck. Freiheit ist wichtig, aber zugegeben, oft mühsam. Andrerseits verpflichtet einen diese „Willkür“ dazu, die Normsetzung zu begründen. Und das ist spannend.
    Spannend geht nicht ohne „schwierig“, ein tieferes Verständnis geht nicht ohne Ungewissheit. Kürzlich habe ich im Magazin gelesen: Der Wissenschafter weiss, dass er nur glaubt. Der Gläubige glaubt, er wisse.
    Ich wünsche dir spannende Gedankengänge!
    Hans
    (3. März 2008)

    Lieber Hans,
    Mit „Alltagserfahrungen“ meinte ich nicht „Präkonzepte“, also Hypothesen, die „man“ zu einem Phänomen besitzt, ohne dabei den wissenschaftlichen Hintergrund zu kennen. Nein, ich sprach eine „Eidetische Reduktion“ (Husserl), eine Rückführung des Erlebten auf das „Wesentliche“ an. Während dieser phänomenologischen Reflexion sollte man natürlich jegliche ungesicherte Urteile vermeiden. Diese Wesensschau bringt eine allgemeine Form zutage, die allen Einzeldingen, auch dem Menschen innewohnt (vergleiche die Phänomenologie Edmund Husserls).
    Du schaffst dies meisterhaft mit „Bildlichmachen“: Du gebrauchst sehr viele eindrückliche Bilder in Deinen Kursen und Schriften: Sich wie eine Einkaufstasche hinsetzen und von unten gestützt werden. Wie durch einen Hubstapler zuerst die Sitzbeine steigen lassen (beim Entfalten). Bilder von Katzen und Affen. Becken als Platzhalter (Spacer), der nach der Rolfingarbeit nicht mehr sichtbar sein sollte. Kopf wie eine Strumpfkugel (im Strumpf). Körpermodell als Wassersack oder Mettwurst (hydrostatischer Ballon). Fuss als Saugnapf, usw., usw..
    Hier erscheint doch alles sehr „einfach“ und wird (für Klient und Rolfer) erklärbar.
    Danke Dir für die spannenden Gedankengänge!
    Thomas
    (9. März 2008)

    Lieber Thomas,
    ich bedanke mich für das Lob, das mich etwas überrascht. Ich halte mich nämlich nicht für besonders begabt mit Bildern, und ich fühle mich immer etwas unwohl dabei. Und zwar, weil sie eindeutig sekundär sind. Sie verhalten sich wie eine Illustration zu einem Text, den man dadurch besser versteht. Illustrationen ersetzen aber nie den Text. Sie sind sogar etwas gefährlich – ich spreche nur für mich! -, weil sie allein genommen meist sofort an der Sache vorbeiführen ins grosse Irgendwie.
    Ich bringe diese Bilder immer erst, nachdem ich einen theoretischen Punkt kurz und klar erläutert habe. (Dafür würde ich gerne gelobt, das mache ich gut!) Wen man nur mit Bildern arbeitet, kommt man nie zu NF, behaupte ich. Wenn sie dir also dermassen einleuchten, beweist das, dass du den kognitiven Schritt vollzogen hast. Das müsste man krasser formulieren, denn man kann nicht von einer erkenntnistheoretischen Ebene auf die nächste schreiten, man muss über den Bruch (la rupture!) springen!
    Natürlich ist die Bildwelt so viel attraktiver als die rationale Beschreibung. Ich habe aber doch etwas gestaunt, als ich Fotoillustrationen von zwei Kollegen sah, die früher bei der Entwicklung von NF dabei waren. Der eine bezieht sich explizit auf NF. Das war mitnichten NF, nah dran vielleicht. „Nah dran“ ist meine Standardantwort, wenn ich wieder einmal höre, jene Menschen am Amazonas (oder sonst wo, meist weit weg), oder Kinder, oder Tiere bewegten sich in „perfekter NF“. (Dieses obsessive Fantasma, dass Kinder oder „Wilde“ natürlich seien, lässt sich nie ausrotten! Die Natur des Menschen ist seine Kultur.) Das lässt meinem Gegenüber dann die Wahl, es als Zustimmung zu nehmen oder als Widerspruch. Denn „nah dran“ ist nicht NF. Wie wir Fussballer sagen (die keine 10 m rennen, wenn kein Ball im Spiel ist): knapp vorbei ist auch daneben.
    Ich insistiere vielleicht dermassen auf die neue Erfahrung, weil ich das bei meiner ersten Rolfingstunde eindrücklich erlebt habe. ich hätte mir nie vorstellen können, auch wenn man es mir erklärt hätte, dass es so was gibt und wie das ist.
    Ich habe dafür eine kleine private Typologie der Menschen. Nach der ersten Stunde, wenn der Klient wieder auf den Beinen ist, frage ich unauffällig, wie er sich fühlt. Da gibt es einen Typ, der nichts spürt und vielleicht sagt: „Nun ja, wie immer“. Ein zweiter Typ hat keine Mühe, sein Gefühl ins Bekannte einzuordnen, und sagt z.B.: „Ich fühle mich so entspannt“. Ein dritter Typ bemerkt, dass etwas neuartig ist, und sagt so etwas wie einer kürzlich: „Ich glaube, ich bin höher.“ Der vierte Typ, vielleicht zur Zeit die grösste Gruppe, sagt gar nichts. Ich sehe, wie der Geist angestrengt arbeitet und nach einem adäquaten Ausdruck sucht, aber keinen findet. Ich erlöse ihn dann gerne, z.B. indem ich sage: „Am liebsten wäre mir, sie sagten, es sei anders.“ Meist stimmen sie erleichtert zu.
    Zum Phänomenologischen kann ich nichts sagen mangels Kenntnis und Neigung. Sicher steht aber eine neuartige Erfahrung im Gegensatz zu den Alltagserfahrungen. Ich habe den Eindruck, diese spielen die gleiche Rolle wie das Vor-Wissen auf der kognitiven Ebene: sie bilden ein epistemologisches Hindernis. Man muss sie ja nicht gleich „ausrotten“ – das geht ja gar nicht – aber umspielen, unterlaufen, aufweichen, andröseln – das schon!
    Um auf dein Anliegen zurückzukommen: natürlich schulden wir den Klienten eine Erklärung. Da dies nicht möglich ist, müssen wir mit dem Nächstbesten vorlieb nehmen. Nämlich, auf die explizite oder implizite Frage zu achten, dazu etwas Erhellendes zu sagen, sie aber offen zu lassen – oder sogar weiter zu öffnen? -, damit ein Springen auf die neue Ebene möglich bleibt.
    Vielleicht ist das Nächstbeste sogar das Bessere?
    Hans
    (16. März 2008)

    Lieber Hans
    Deine Botschaft ist klar:
    Zuerst muss die Theorie klar sein, dann erst kann ein Bild „einleuchten“ und auf eine neue Ebene führen. Allein betrachtet, besteht die Gefahr, dass Bilder eine Aura von Beliebigkeit besitzen, die in die Irre führen können.
    Also: Rechtfertige hier Dein „Eigenlob“ und erläutere hier kurz und klar die theoretischen Punkte hinter den obigen Bildern!
    Zum Beispiel das Sitzen (NF), was ja die meisten der Leser im Moment tun. Dann auch das Falten (in Normal Function) – und wer (normal) falten kann auch normal stehen und normal gehen (würdest Du das auch so sagen?!).
    Schiess los!
    Thomas
    (21. März 2008)

    Ja, lieber Thomas, wenn es so einfach wäre!
    Lass mich zuerst noch etwas am gesunden Menschenverstand, der „Alltagslogik“, kratzen. Nicht nur, weil es amüsant ist; ich falle ihr auch jetzt noch immer wieder einmal zum Opfer.
    Ein wunderbares Beispiel ist „Lesen durch Schreiben“. Das geht natürlich nicht, denn zuerst muss man die Buchstaben visuell erkennen, lesen also, bevor man sie schreiben kann. Der frische Erstklässler kommt also nach Hause, und gespannt bitte ich ihn, ein Wort zu schreiben. Mit seiner Tabelle malt er Buchstaben um Buchstaben, besser: Laut um Laut, und da steht das Wort. Ich frage ihn, was er geschrieben habe. Er weiss es nicht, hat es vergessen, und lesen kann er es nicht.
    Das erste Wort, das er lesen konnte, war übrigens „Biogaze“. Das erste Mal erkennt man leicht an der riesigen Freude und dem Stolz, mit dem diese höchst dringliche Nachricht überbracht wird. Dieses Wort hatte er sicher nie gehört und wusste auch nicht, was es bedeutet.
    Das hat insofern mit deiner Frage zu tun, als du wahrscheinlich meinst, Sitzen und Stehen seien einfach. Das Gegenteil ist der Fall: Stehen ist wahrscheinlich das schwierigste überhaupt! Ein Grund liegt in der Physiologie. Unsere Propriozeptoren, die inneren „Sensoren“, auf die unsere Wahrnehmung angewiesen ist, melden uns hauptsächlich Unterschiede, Veränderungen, nicht Zustände. Wenn wir uns also kaum bewegen, kommt nur wenig Information, unser Hirn darbt, und das Bewusstsein kann sich kein richtiges Bild machen. Beim Stehen muss man ausserdem mehrfach Richtungsänderungen um 180° auf kleinstem Raum wahrnehmen. Und beim Sitzen gibt es oft strukturelle Hindernisse.
    Ich fange eigentlich immer mit etwas Einfachem an, dem Schwerpunkt beim Gehen. Ich erkläre, dass wir uns auf den Moment konzentrieren, bei dem das Gewicht voll auf das Standbein kommt. Es kann dann zu weit vorn oder zu weit hinten sein. Wenn wir uns vorstellen, wir gingen mit neuen feinen Lederschuhen auf spiegelglattem Eis, würden wir bei jedem Schritt ausgleiten und hinfallen. Dabei gibt es zwei Möglichkeiten: Der Fuss rutscht nach vorn und ich falle auf den Hintern, oder er rutscht nach hinten und ich falle aufs Gesicht. Natürlich gibt es dabei die üblichen Schwierigkeiten, mit dem Gewicht wirklich nach vorn zu kommen, aber es funktioniert recht gut. Und ja, das Bild, das es für mich sonnenklar macht, ist, dass ich beim üblichen Gehen den festen Eindruck habe, hinter den Beinen her zu gehen. „Ich“ ist etwa am oberen Rand des Brustbeins lokalisiert. Ich bringe ein Bein nach vorn, dann folgt der Körper, dann das andere Bein, wie man sich Gehen eben vorstellt. Man geht schliesslich mit den Beinen, und die müssen was tun dafür! Beim normalen Gehen laufe ich vor den Beinen her, und es geht wie von selbst. Und weil sich alle Welt immer nur für Muskeln, Stärke, den „Motor“ des Gehens („spinal engine“) interessiert, habe ich ein Merksätzchen, das du sicher nachempfinden kannst: Normal Walking is powered by inertia.

    Ich merke, ich habe deine Frage schon wieder nicht beantwortet, dafür immerhin eine andere, leichtere.
    Hans

    PS: Zum Gehen noch ein interessantes Detail. Wenn du schneller gehen willst und die Schrittlänge vergrösserst, greifst du nicht weiter nach vorne aus, sondern lässt das hintere Bein maximal lang werden. Wenn du das Tempo weiter erhöhst, kommt das hintere Bein nicht mehr rechtzeitig nach vorn unter den Rumpf. Du beginnst dann automatisch zu laufen, ohne dass sich an der gleichmässigen waagrechten Bewegung des Rumpfes etwas ändert. Diesen flüssigen Phasenübergang finde ich besonders hübsch.
    (29. März 2008)

    Lieber Hans
    Jetzt hat’s aber doch schon etwas Fleisch am Knochen: Das Gewicht (des Oberkörpers) als treibende Kraft des „Normalen Gehens“ und nicht (primär) die Beinmuskeln. Die Beine, die „nachschwingen“, träg, hängend, eben „inert“ hinterher gehen. Könnte man hier nicht das Bild des Fadens geben, der uns vom Brustbein her nach vorne zieht und es waagrecht nach vorne gleiten lässt.
    Versuchen wir es doch trotzdem gleich noch mit dem ökonomischen, normalen Sitzen:
    Stichworte: Füsse am Boden, Knie nach innen fallen lassen, so dass die Sitzbeine etwas auseinander gehen und der Beckenboden passiv gespannt wird. Das Becken etwas nach hinten gleiten lassen. Man kommt so vor die Sitzbeinhöcker zum Sitzen: das Becken ist eine entspannte Schüssel mit flachem Boden. Bauch, Gesäss und Hüfte sind locker. Das Gewicht des ganzen Oberkörpers in diese Schüssel abgeben. Das Brustbein schwebt hoch und vorne (nicht hochziehen), die Schultern hängen frei und sind nicht nach hinten gezogen und der Kopf sitzt frei wie eine Boje oben drauf.
    Ergänzungen, lieber Hans?
    (5. April 2008)

    Lieber Thomas,
    ja, es hat Knochen im Fleisch, um die Perspektive zu wahren, denn das Fleisch ist primär.
    Gegen deine Stichworte gibt es nichts zu sagen; vielleicht funktioniert es so, vielleicht nicht. Ich möchte nur zwei Dinge dazu bemerken. In der Praxis vermeide ich den Begriff „Entspannung“ konsequent. Er gehört zum Vor-Wissen, das den Weg zu einem strukturellen Wissen effektiv versperrt. Natürlich ist das Konzept von passiver plus aktiver Spannung – und das reziproke Verhältnis der beiden – neu und schwierig. Ohne dieses Konzept kann man aber NF nicht verstehen. (Es gibt übrigens einen Vorläufer in der Medizin: in der Unterscheidung von Kontraktion (Spasmus, Krampf) und Kontraktur.)
    Ich glaube, es ist wichtig, dass wir die Gebiete Therapie und Lernen auseinander halten, weil sie völlig unterschiedlich strukturiert sind. Das Therapeutische ist natürlich enorm wichtig, und wenn ein Erfolg erzielt wird, ist die Art und Weise eher unwichtig. Ich kann mich gut an eine Klientin erinnern, eine junge, aufgeweckte Frau, die zu einer post-ten Stunde kam. Strahlend erzählte sie mir, sie habe nie mehr Rückenschmerzen, seit sie einfach immer den Bauch rausstrecke, wie ich es ihr gesagt hätte. Keine Rückenschmerzen ist definitiv besser als Rückenschmerzen! Aber normalerweise kann man den therapeutischen Effekt von NF nicht haben, ohne wenigstens ein bisschen zu verstehen, also zu lernen.
    Und es geht nicht über Lernen Null, wie Bateson es nennt (Lit.7): Man kann sich nicht ausbilden lassen in NF, man muss es sich selbst aneignen. Es braucht also mindestens Lernen 1, für Rolfer sogar Lernen 2. Man kann also nicht die Theorie, oder Stichworte, wie ein Programm installieren. Sondern es geht nur über die Wahrnehmung, durch spielerisches Ausprobieren und Vergleichen von normaler und üblicher Bewegung, immer wieder. Es ist also etwas Dynamisches dabei, NF erwirbt man nur, indem man es praktisch im Gegensatz zum Üblichen wahrnimmt. Du möchtest ein Bild haben? Klar, wenn man schwimmen lernt, kann man dies als eine zusätzlich erworbene Fähigkeit ansehen. Das ist etwas Additives. Oder man kann es so sehen, dass man jetzt „Schwimmer“ ist. Das ist etwas Transformatives, und also Irreversibles.
    deshalb irreversibel skeptisch
    Hans
    (14. April 2008)

    Lieber Hans
    hier nähern wir uns ja den Existentialisten, z.B. Sartre, der sagt, dass unser Bewusstsein nichts ist, ehe es nicht empfindet. Denn Bewusstsein ist immer das Bewusstsein von etwas. Und was dieses „etwas“ ist, hängt ebenso sehr von uns selber ab wie von unser Umgebung. Wir tragen selber dazu bei, was wir empfinden, denn wir wählen das aus, was für uns von Bedeutung ist. Hieraus wächst auch die Differenz der zwei „Filme“ in der Therapiebeziehung, wie Du es ansprichst: der Film des Klienten und der des Therapeuten…
    Vorleben ist in der Therapie halt so wichtig wie in der Erziehung. Ich habe manchmal das Gefühl, dass das, wie ich mich selbst bewege viel wichtiger für den Klienten ist, als das, was ich darüber sage. Ich höre es deshalb immer sehr gerne, wenn jemand sagt, er wolle erreichen, dass er sich bewegen will, wie ich es tue (ganz abgesehen von meinem dadurch befriedigten Narzissmus natürlich…).
    In diesem Zusammenhang wäre mal interessant, etwas über die Entwicklungsgeschichte der NF zu erfahren. Wie kamst Du überhaupt auf die Idee, dass die Grundbedingung der Auslösung einer ökonomischen Bewegung die selektive Reduktion der aktiven Spannung (Muskelkraft) ist (Lit. 5)? Etwas also, dass noch vor zehn bis zwanzig Jahren völlig schräg in der Therapielandschaft stand! Wie viel Einfluss hatte hier Dein Schwager Willi Harder?
    Thomas
    (20. April 2008)

    Lieber Thomas,
    ein schöner Gedanke, falls er einschliesst, dass im Bewusstsein etwas gehen kann, wenn ich mich ärgere oder sogar Wut empfinde…
    Ich beschäftigte mich ja damals intensiv mit grundlegenden Fragen des Gebiets – nichts war klar! – und NF entstand eigentlich als Nebenprodukt, „with a little help from my friends“. Willi (Harder) und Wolf (Wagner) waren aktiv dabei und beförderten das Ganze mit Nachfragen, Kritik, eigenen Ideen. Ich brütete über dem Blockmodell, bei dem die Blöcke genau senkrecht übereinander stehen sollten, „wie jedes Kind weiss“ gemäss Ida Rolf (Bild siehe oben).
    Nur genügt das nicht. Die These braucht eine Begründung, obwohl sie so trivial wahr scheint. Ich fand dann eine: die These ist wahr, wenn die Blöcke und der Körper möglichst ökonomisch stehen sollen. Damit war ich aber im Bereich des „Funktionellen“, von dem wir mühsam das „Strukturelle“ abgetrennt hatten, um die beiden in Beziehung setzen zu können.
    Im Zusammenhang damit beschäftigte mich die fast etwas einfältige Frage: „Was ist mit Bücken?“ Dabei können die Blöcke nicht mehr senkrecht übereinander stehen. Diese Frage ist aber nur ein Beispiel für die allgemeinere Frage: „Wie entsteht Bewegung?“ Dafür braucht es eine Kraft, und aus Erfahrung (!) sagt dann jeder, dass Muskeln arbeiten müssen.
    Diese Antwort ist aber kurzschlüssig und ziemlich unphysikalisch. Ich erinnerte mich daran, dass bei einem ruhenden Körper oder einem, der sich gleichmässig und gradlinig bewegt, alle Kräfte im Gleichgewicht sind und sich neutralisieren. Die richtige Antwort lautet also: das Gleichgewicht der Kräfte muss gestört werden. Dann taucht eine Nettokraft (schönes Wort!) auf, die bewegt. Wir können das Gleichgewicht der Kräfte nur über die Muskeln stören, vom ökonomischen Gesichtspunkt aus aber auf zwei entgegengesetzte Weisen: wir erhöhen aktive Spannung, oder wir vermindern sie. Im ersten Fall verbrauchen wir mehr Energie, im zweiten sparen wir Energie ein. Damit war das Prinzip von NF formuliert, ohne dass ich mich konkret mit Bewegungen beschäftigt hätte. Typisch „rationalistisch“ halt! Die Ausarbeitung der speziellen Bedingungen war bei dieser Ausgangslage relativ einfach.
    Eine Folge davon befriedigt mich ausserordentlich, weil sie ganz unerwartet kam. Die Nettokräfte, die Bewegung auslösen oder verändern, sind nämlich immer die Schwerkraft oder die elastische Kraft der Faszien oder beide. Das passt dann, hinten herum sozusagen, sehr schön und haargenau dazu, dass die Schwerkraft und die Faszien die „zwei fruchtbaren Ideen“ sind, die Ida Rolf in die Betrachtung des Körpers einbrachte. Als zweites gefällt mir besonders, dass es sich um eine verständliche und eindeutig systemische Beschreibung handelt. Es ist ja trotz allen gegenteiligen Beteuerungen auch im Gebiet der SI so, dass wir immer wieder auf lineare Ketten von Ursache und Wirkung zurückgreifen, wenn wir konkret werden.
    Es gibt natürlich Parallelen auf ganz anderen Gebieten. Bei der Kommunikation zum Beispiel glaube ich, dass ein wesentlicher Aspekt der ist, dass immer versucht wird – oft unbewusst – das Verhalten, Denken und Fühlen wechselseitig zu beeinflussen. Zu diesem Zweck wird entweder „Druck aufgesetzt“ oder Druck weggenommen. Das zweite gefällt mir natürlich viel besser, schön krass formuliert z.B. bei Morgenthaler (Lit.8): „…und wir können keinen analytischen Prozess einleiten, wenn wir uns nicht eingestehen, dass wir ihn (den Analysanden) dazu verführen.“ (Und ja, ich nehme an, ich bin soeben dabei, dein Denken in eine etwas andere Richtung zu verführen…)
    Wenn wir etwas hilflos „System“ denken, bei mir jedenfalls, vergessen wir oft, dass Systeme (der Körper, Beziehungs- oder Gesellschaftssysteme) von widerstrebenden Kräften erfüllt sind, dass es nur so brodelt. Ich stosse mich sofort am Wort „Erziehung“ das du beiläufig benützt. Ich verstehe nämlich überhaupt nicht, weshalb da gezogen werden soll. Ich sehe zwei mögliche Gründe für diese befremdliche Vorstellung. Die eine ist die, dass nichts geschieht, wenn nicht gezogen wird. Jeder, der einmal mit kleinen Kindern zu tun hatte, weiss, dass diese Vorstellung komplett absurd ist. Die andere würde auf der Angst beruhen, es würde falsch laufen, wenn nicht in die richtige Richtung gezogen wird. Das ist fast genau so absurd. Der Begriff „Erziehung“ lässt sich vielleicht nicht vermeiden, er führt aber das Denken mit Sicherheit zuerst einmal in eine Sackgasse.
    Zu „Vorleben“ möchte ich dich fragen: was ist der Unterschied zwischen „Vorleben“ und „Leben“? Das soll kein Argument dagegen sein, eine Bewegung zu zeigen. Oft führt das schnell zu einer Klärung. Am liebsten mache ich das, auch wenn es etwas boshaft ist, bei den nicht so seltenen Klienten, die zwar spüren, dass normales Gehen in jeder Beziehung besser ist, die aber nicht aufhören können, lauthals zu schimpfen, dass das lächerlich aussehe, affig, völlig unmöglich sei. Ich gehe dann jeweils ein bisschen normal hin und her und frage sie dann mit falscher Freundlichkeit, ob ich lächerlich, affig usw. auf sie wirke.
    Denn das darf alles auch ein bisschen aggressiv, lustig, sogar schockierend sein, wie im richtigen Leben.
    Hans
    (4.Mai 08)

    Lieber Hans,
    den Klienten, die Klientin zu verführen: dies darf man dem Ethikkomitee nicht unter die Nase streichen… doch das Bild ist sehr schön!
    Sag mal: Dieses Blockmodell von Ida Rolf ist doch eigentlich unbrauchbar und hat keine Gültigkeit mehr?!
    Dann: Die Verminderung der aktiven Spannung zur Bewegungsauslösung existiert auch in anderen Konzepten der Körperarbeit (so in der Spiraldynamik, Feldenkraisarbeit, Pilates) aber es geistert dann gleich auch immer noch der Gebrauch der intrinsischen Muskulatur (Rumpfstabilisatoren) rum. Warum findet man diese Idee der Schwerkraft und der elastischen Kraft der Faszien als „Nettokräfte“ nirgends sonst? Ist dies wieder ein Bruch im Sinne von Bachelard?
    Sich wundernd, Thomas
    (11.Mai 08)

    Lieber Thomas,
    die Ethik ist ja immer dabei: ob ich jemand zu etwas zwinge oder verführe, es ist immer zu etwas Gutem oder etwas Schlechtem. Allerdings kann ich im ersten Fall der Frage leicht ausweichen, indem ich mich auf Sachzwänge oder irgendwelche Autoritäten berufe.
    Ich sehe, dass das Wort offenbar anstössig ist. Wenn wir uns das also nicht „eingestehen“ wollen, bin ich nicht sicher, ob es noch geht. Denn für NF muss ich mich quasi selbst v…: wir könnten es aber entschärfen: den -Modus statt des +Modus einstellen.
    Ich selbst lasse mich nur höchst widerwillig z…, jedoch v… lasse ich mich nicht ungern. Deshalb ist es leicht für dich, wie du das wahrscheinlich beabsichtigt hast, mich dazu zu v…, lauthals über die blinde Idiotie zu schimpfen, die das Blockmodell als unbrauchbar und ungültig erklärt. Das tue ich aber nicht, sondern sage nur: es ist einer von Ida Rolfs Geniestreichen. Und zwar tut es, was jedes gute Modell (im engeren Sinne) tun muss: es abstrahiert von allem, das nicht direkt zur Frage gehört, und es übertreibt und verzerrt bis zur Kenntlichkeit das, was es illustrieren soll. Das sind nur zwei Aspekte. Erstens zeigt es, dass es im Körper Gegenden gibt, die beweglicher sind als andere, und zweitens sollen diese anderen, weniger beweglichen, die man Blöcke nennen kann, senkrecht übereinander stehen. Das zweite führt direkt zur ökonomischen Prämisse, die das Gebiet der Strukturellen Integration überhaupt erst öffnet. Auf das erste legte Ida Rolf grossen Wert, doch weiss ich immer noch nicht genau weshalb. Da liegt vielleicht noch etwas drin.
    Merkwürdig fand ich einen offensichtlichen Widerspruch zwischen Bild und Text. Im Text ist das Modell immer in einen elastischen Sack gepackt, der, wenn ideal, ein „strain-free system“ bildet beim normalen Arrangement. Ich vermute, dass dieser Sack einfach aus grafischen Gründen weggefallen ist. Es war einfach nicht zu machen. Dann könnte es sein, dass die Macht des Bildes diesen Sack, der das Strukturelle darstellt, im Bewusstsein einfach hat untergehen lassen.
    Ich wundere mich meinerseits, weil du glaubst, den Extensionsmodus auch andernorts gefunden zu haben. Ich habe solches noch nie gesehen, auch nicht gelesen. Mein Lesen ist allerdings sehr lückenhaft, und falls du mir etwas angibst, werde ich es mir anschauen (Text genügt, keine Bilder). Andrerseits finde man diese Idee nirgends, sagst du. Und das hat vielleicht damit zu tun, dass der Extensionsmodus erst wirklich deutlich wird, wenn auch die speziellen Bedingungen stimmen. Und damit, dass die Idee zu simpel ist, dass der Energieverbrauch verschieden ist, wenn ich im geometrischen Sinne verschieden laufe. Oder sonst was, ich weiss es eigentlich nicht!
    Ich denke, dass Bewegungen irgendwie als gegeben hingenommen werden, und dass es meist darum geht, excess tension zu reduzieren. Wir brauchen ja immer zu viel Kraft für alles. Und die Frage der base tension taucht gar nie auf. Und dann ist Bewegung so viel mehr als Physik! Aber was spekuliere ich da, wo ich es einfach nicht weiss!
    Natürlich ist es ein Bruch, immer derselbe, und zwar von einer Ursache/Wirkungskette zu einem System, das dauernd von Kräften getrieben wird, wenn sie sich gerade einmal nicht gegenseitig neutralisieren.
    Und ich finde es wunderbar, dass es so viele verschiedene Bewegungsschulen gibt, zum Teil sehr schöne und elegante, andere weniger, aber so kann jeder seines finden. Für mich ist NF halt so wichtig, weil ich damit endlich ein bisschen etwas von Struktur verstanden habe. Ein Paradox vielleicht, aber Paradoxien und Widersprüche (und Konflikte) sind primär.
    mit besten Wünschen für eine angenehm widersprüchliche Zeit
    Hans
    (18.Mai 08)

    Du hast recht, lieber Hans, bei der Durchsicht der mir zur Verfügung stehenden Literatur dieser weiteren Bewegungsschulen finde ich den Extensionsmodus wirklich nirgends beschrieben. Meine Ansicht darüber fusste auf mündliche Aussagen von Kursleiter und Ausübenden der Spiraldynamik, der Pilatestechnik und von Feldenkraisarbeit. Der Bruch ist wohl zu gross, das man sowas auch in Schwarz und Weiss niederlegt…
    Aber: In der Bionik wird bei der Roboterentwicklung als top-down-Prozess (Analogien in der Natur suchen und danach konstruieren) spinnenartige Maschinen gebaut, deren Beine autonome Steuerungsfunktionen besitzen und die dadurch zentral gesteuerten Robotern weit überlegen sind. Als Beispiel baut an der Uni Zürich Prof. Rolf Pfeifer und sein Team, Forscher im Bereich der künstlichen Intelligenz und in Biorobotik, einfachste Roboter die (mit einer Art Extensionsmodus durch Verminderung der aktiven Spannung)  mit Schwingenlassen der pendelartig aufgehängten Beine sich sehr ökonomisch und natürlich bewegen. Im Gegensatz dazu bewegen sich die hirn-gesteuerten, komplizierten Roboter (z.B. von Sony) völlig unnatürlich und mit enormem Energieverbrauch.
    Dasselbe Prinzip treffen wir bei den kleinen Plastikspielzeugmännchen an, die frei bewegliche Beinchen aus einem steifen Oberkörper besitzen und sich so mit pendelnden Beinchen und ohne Motor eine schräge Ebene runter bewegen können. Auf einer ebenen Unterlage funktioniert dies, wenn ein Gewicht an einem Faden nach vorne zieht (welches über die Tischkante hängt). Übersetzt auf uns Menschen und beim NF wäre dies ein Schwerpunkt vor dem Lot (Brustbein schwebt vorne weg).
    Spielzeuge bergen übrigens häufig Anwendungen von komplizierter Physik, die einfach funktionieren. Wären gute Studienobjekte.
    Spielerisch aufgelegt, Thomas
    (25.Mai 08)

    Ja, lieber Thomas, und besonders hat mir der Titel gefallen, den Pfeifer für seinen kürzlichen Vortrag an der Volkshochschule fand: „Ohne Körper keine Intelligenz.“ Das ist eine ziemlich radikale Behauptung, und sie kommt aus diesem Zweig der AI (künstlichen Intelligenz), der versucht, Computer zum Lernen zu bringen. Diese kleinen Computertierchen, die er herumsurren lässt, sind auf sensorischen Input angewiesen, um lernen zu können. Damit ist sicher Lernen1 nach Bateson gemeint, nicht Lernen0 (Lit.7). Lernen0 (sich ausbilden lassen, ein Training besuchen) bedeutet wahrscheinlich bei einem Computer oder Roboter, ihn zu programmieren. Für sensorischen Input braucht es einen „Körper“. Vielleicht braucht der Computer sogar eine Motorik, um aktiv erkunden zu können.
    Jedenfalls kann man spielerisch sagen,Lernen0 sei etwas Additives, Lernen1 etwas Transformatives. Der Computertechniker, der eben den neuesten und raffiniertesten Laptop herausgebracht hat, würde sagen: der ist kaputt! Bei gleicher Eingabe macht der jedes Mal etwas anderes!
    Ausserdem, spielerisch gesagt, hat Ida Rolf vielleicht doch ein bisschen mehr recht, als ich ihr zugestehen will? Und wenn man sich nicht in NF ausbilden lassen kann, sondern es lernen1 muss, wo führt das hin?…
    Nochmals zurück zum Transformativem, das eigentlich bedeutet, dass sich die Identität verändert. Diese wird ja immer mehr biometrisch festgehalten. Wenn sich die Körpergrösse ändert, bin ich dann noch der Gleiche? Ich erinnere mich an diesen Klienten, einen Banker, der sich jedes Jahr die Kleider von seinem Schneider massschneidern liess. Der habe fast durchgedreht, berichtete er lächelnd, als er zur Sicherheit die Masse kontrollierte, und alle völlig falsch waren…
    Die „passive dynamic walkers“, die du anführst, sind eine lustige Gesellschaft. Das Standardmodell, von dem sie sich absetzen, stammt von Honda, so viel ich weiss. Die neuen benötigen fast 10x weniger Energie beim Gehen. Doch das Interessante daran ist, dass sie auch viel weniger Programmieraufwand brauchen, ein „kleineres Hirn“ also. Falls die Aerodynamik entsprechende Fortschritte macht, wird die Wissenschaft in absehbarer Zeit in der Lage sein zu beweisen, dass die Möglichkeit besteht, dass Mücken wirklich sinnvoll herumfliegen können…
    Haben wir vielleicht einfach ein viel zu grosses Hirn für unser Glück?
    Grübelnd Hans
    (29.Mai 08)


    Erwähnte Literatur:

    1. Ida P. Rolf, Rolfing – Strukturelle Integration, Wandel und Gleichgewicht der Köperstruktur, Hugendubel, München 1989
    2. Hans Flury: Die neue Leichtigkeit des Körpers, dtv ratgeber,  München, 1995 (PDF hier).
    3. Gaston Bachelard (1884-1962): La Philosophie du non. Paris, 1942; dt. Ausgabe: Die Philosophie des Nein. Versuch einer Philosophie des neuen wissenschaftlichen Geistes. Übers. von Gerhard Schmidt u. Manfred Tietz, F/M: Suhrkamp, 1980. (stw 325)
    4. Rosemary Feitis (Herausg.): Ida Rolf Talks about Rolfing and Physical Reality, Boulder, 1978, The Rolf Institute
    5. Hans Flury/Thomas Walser, Strukturelle Bewegungslehre in Kürzewww.dr-walser.ch/oekonomie_der_bewegung.pdf
    6. Thomas Walser, Normale Haltung beim Laufen: www.dr-walser.ch/laufhaltung.pdf
    7. Gregory Bateson, Ökologie des Geistes – Die logische Kategorien von Lernen und Kommunikation, 1971
    8. Morgenthaler Fritz: Technik. Zur Dialektik der psychoanalytischen Praxis. Psychosozial-Verlag, Giessen, 2005

    Veröffentlicht am 29. Mai 2008 von Dr. med. Thomas Walser

  • Herzinfarkt / Arteriosklerose

    Herzinfarkt / Arteriosklerose

    Das gebrochene Herz

    Jeder einzelne Herzschlag tanzt im Rhythmus der Seele.

    Zuallererst heisst „Herzinfarkt“ sorgfältig aus dem Lateinischen übersetzt „gebrochenes Herz„. Das Herz ist mehr als ein Muskel und eine mechanische Pumpe. Das Herz ist der Umschlagplatz von Liebe und Schmerz, Angst und Mut. Man verschenkt sein Herz aus Liebe. Man nimmt sich etwas zu Herzen. Man stirbt an gebrochenem Herzen. Das Herz hat ein Bedürfnis nach Geborgenheit, Grosszügigkeit, Gelassenheit und Wärme. Hektik, Zeitnot, kein Sinn im Leben und Stress führen dazu, dass sich das Herz einem von aussen diktierten Rhythmus zu unterwerfen hat. Das Herz benötigt im Arbeitsalltag den Gegenpol der Entspannung, des Rückzugs, das Ausleben von Sehnsüchten, Träumen und Gefühlen.

    Was führt zur Arterienverkalkung und zum Herzinfarkt oder Hirnschlag?

    Diese Risikofaktoren waren (in der Interheartstudie) unabhängig von Alter, Geschlecht und ethnischer Gruppe signifikant mit einem Herzinfarkt assoziiert:

    Ein BMI von mindestens 35 ist mit einem 80% erhöhten Risiko verbunden, exzessiver Alkoholkonsum erhöht das Risiko um rund 40%, Rauchen um 30% (Herzinfarkt und Vorhofflimmern).

    Man findet bei Menschen mit Myokardinfarkt aus allen ethnischen Gruppen und allen Regionen der Welt signifikant häufiger :

    • Depressionen
    • Belastende Lebensereignisse in den letzten zwölf Monaten
    • Und beruflichen, privaten oder finanziellen Stress

    Weitere Risikofaktoren in der Interheartstudie waren:

    Diese drei letzten Faktoren werden vor allem von den Ärzten gemessen und stehen dort meist im Mittelpunkt. Sie sind aber bereits Folgeerscheinungen der primären Ursachen Dauerstress und Bewegungsarmut/Bauchfett.

    Weiterer Risikofaktor aus unserer Umwelt: Mikroplastik

    Im spanischen SUN-Projekt wurde 2017 auch der Nutzen eines 10-Faktoren-Scores zur Beurteilung der kardiovaskulären Gesundheit untersucht. In den Score flossen 6 traditionelle, negative Risikofaktoren

    • Rauchen
    • BMI, v.a. durch Bauchfett
    • Keine mediterrane Ernährung
    • Wenig körperliche Aktivität (jedoch auch nicht zu langer und anstrengender Ausdauersport)
    • Chronischer psychosozialer Stress (auch Freizeitstress durch Selbstoptimierung)
    • Hoher Alkoholkonsum, inkl. Binge-Drinking („Komasaufen“)

    und 4 nicht-traditionelle, positive Einflussfaktoren ein

    • TV/Internet-Konsum unter 2 Stunden täglich
    • Gute Sozialkontakte
    • Wenig Wochenarbeitszeit (Burnout)
    • Kaffeekonsum (3 bis 4 Espresso täglich)

    Mit zunehmender Zahl positiver Faktoren (Score von 0–10) nahm die Wahrscheinlichkeit von kardiovaskulären Ereignissen stetig ab. Bei Teilnehmern mit einem Score von 7 bis 10 war die Ereignisrate im Verlauf von im Median 10 Jahren um 87% geringer als bei Personen mit einem Score von 0 bis 2. Die Einzelfaktoren mit dem höchsten positiven Einfluss waren Nicht-Rauchen (Hazard Ratio: 50%) und TV/Internet-Konsum unter 2 Stunden täglich (HR: 0,57). Dieser Score könnte helfen, die Präventionsbemühungen über traditionelle Risikofaktoren hinaus zu intensivieren, wobei die vier nicht-traditionellen Faktoren vor allem auf den Stress und die Entspannung einwirken.
    Hierhin gehört wohl auch das ausgiebige Frühstücken mit viel Zeit, welches höchst wahrscheinlich v.a. durch einen entspannten Tagesbeginn positiv auf Herz-Kreislauf wirkt.

    Rauchen, chronischer Stress und Übergewicht/Bewegungsarmut

    Weltweit sind also die drei wichtigsten Risikofaktoren
    Rauchen, Dauerstress und Übergewicht kombiniert mit Bewegungsarmut.
    Zusammen sind sie für 2/3 aller Risikofaktoren des akuten Herzinfarkt verantwortlich. Diabetes mellitus, Hypertonie und hohe Blutfette sind die nächsten bedeutsamen RF, aber ihre relative Bedeutung ist in verschiedenen Ländern unterschiedlich – und sie sind meist bereits die Folge der obigen drei wichtigsten.

    Rauchen zeigt eine proportionale stufenweise Erhöhung des Risikos. Das Rauchen von nur schon fünf Zigaretten erhöht das Risiko. Daraus lässt sich ableiten, dass es für die Zahl der Zigaretten, die geraucht werden, keine sichere untere Grenze gibt, aber auch, dass das Risiko für einen Herzinfarkt, das mit dem Rauchen verbunden ist, signifikant vermindert werden kann, durch die Verminderung der Zahl der gerauchten Zigaretten.
    The Lancet 366 (2005), 1640–1649 (Zusammenfassung hier: interheart.pdf)

    Diese Risikofaktoren verbreitete sich in den letzten Jahrzehnten weltweit enorm. Sie stellen auch eine Voraussetzung für viele schwere , ja tödliche Verläufe bei Covid-19.
    Dies ist das Bild einer „Syndemie„.

    Alles ist besser für das Herz als sitzen – sogar schlafen

    Die Forscher um Joanna Blodgett vom University College London haben sechs Studien mit insgesamt mehr als 15.000 Teilnehmern ausgewertet, die mit Fitnesstrackern ausgestattet waren. Die Daten zeigten, dass alles besser für das Herz ist als Sitzen, sogar Schlafen. Sitzen war demnach am ungünstigsten. Für das Herz ist es am besten, wenn eine Phase von 30 Minuten mit starker körperlicher Anstrengung in den Tagesablauf integriert wird. Es wirkt sich schon günstig auf die Herzgesundheit aus, wenn man fünf Minuten heftig in Wallung kommt, etwa indem man im Hampelmann-Modus springt oder mit voller Kraft in die Pedale eines Trimmrades tritt. Die entsprechende Bewegungsform muss umso länger dauern, je geringer die Intensität dabei ist. Schon kleine Veränderungen in der alltäglichen Bewegungsroutine bringen Vorteile für das Herz. Den grössten Nutzen sehen wir, wenn sitzende Tätigkeiten durch mässige bis heftige Anstrengungen ersetzt werden. Diese könnten in einem kurzen Lauf, zügigem Gehen oder Treppensteigen bestehen – mithin in allem, was den Puls und die Atmung beschleunigt und den Menschen in Wallung kommen lässt, selbst wenn es nur für ein oder zwei Minuten ist (>>> Anleitung).

    Ein tiefer Ruhepuls ist optimal

    Interessant ist, dass ein tiefer Puls nicht nur das Herz schont, sondern generell zu einer geringeren Krankheitsanfälligkeit und zu einem besseren Wohlbefinden führt.

    Verschiedene Untersuchungen zeigen, dass ein tiefer Ruhepuls die Lebenserwartung erhöht. Überraschend ist dieser Zusammenhang nicht. Nehmen wir als Beispiel die Tierwelt: Das Herz einer Maus schlägt rund 500-mal pro Minute – nach zwei bis drei Jahren stirbt sie dann aber auch schon. Eine Schildkröte hingegen kommt mit nur gerade 6 Schlägen pro Minute aus – und wird gegen 200 Jahre alt.
    Wer seinen Ruhepuls zum Beispiel nur schon von 80 Schlägen pro Minute auf 60 senkt, entlastet das Herz enorm: Damit lässt sich in drei Jahren ein ganzes Jahr an Herzarbeit einsparen. Das ist auch für Durchschnittsmenschen ein realistisches Ziel.

    Wie gut jemand im Notfall mit den Ressourcen seines Körpers klarkommt, hängt ganz entscheidend von der Grundaktivität des Vegetativen Nervensystems ab. Es gilt: je mehr Parasympathikus umso besser. Ein hoher Ruhepuls bedeutet, dass diese Grundaktivität bereits erhöht ist und das System entsprechend geschwächt. Das ist schlecht: Man möchte ja im Ruhezustand möglichst wenig Energie verbrauchen, um dann im Ernstfall alle verfügbaren Reserven abrufen zu können. Wenn wir es heute auch nicht mehr mit wilden Tieren zu tun haben, geht es bei diesem evolutionär bedingten Mechanismus doch immer darum, das Überleben zu sichern. Und dafür ist ein niedriger Puls einfach besser.

    Syndemie

    Die „Pandemie“ Covid-19 macht das Ausmass jener Krankheiten deutlich, die durch schlechte Ernährung, zu wenig Bewegung und soziale Ungleichheiten beim Zugang zu adäquater Gesundheitsversorgung verstärkt werden.
    Der amerikanische Anthropologe Merrill Singer hat 1990 den Begriff „Syndemie“ dafür geprägt.  Die Vorsilbe „syn“ stammt aus dem Griechischen und bedeutet „zusammen, mit, gemeinsam“  – „pan“ bedeutet „ganz, völlig, gesamt“.
    Dazu The Lancet vom 26.09.20 : „Die Wechselwirkung von Covid-19 mit weltweit ansteigenden chronischen Krankheiten wie Fettleibigkeit, erhöhtem Blutzuckerspiegel und Luftverschmutzung hat in den letzten 30 Jahren die Voraussetzungen für derart viele Todesfälle durch und mit Covid-19 erst ermöglicht. […] Viele der Risikofaktoren und nicht übertragbaren Krankheiten“, fügten beteiligte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler hinzu, „erhöhen das Risiko für einen schweren oder gar tödlichen Verlauf von Covid-19.“
    Natürlich ist die globale Ausbreitung von Covid-19 eine Katastrophe. Wenn wir jedoch versuchen, die aktuelle Situation als Syndemie zu betrachten, öffnet sich der Blick für eine zukunftsweisende Einsicht: Auf der ganzen Welt schwächen Menschen ihre Körper durch eine ungesunde Lebensweise. Mehr als „nur“ Massnahmen zur Bekämpfung einer einzelnen Krankheit, brauchen wir deshalb eine Gesundheitspolitik, die es ermöglicht, die Gesundheit aller langfristig zu erhalten und zu fördern.
    (Philosophie Magazin, Octave Larmagnac-Matheron, 

    Wissenschafter haben in Gefässablagerungen (Plaques) Kunststoffpartikel (Mikroplastik) nachgewiesen

    Die Betroffenen dieser italienischen Studie erlitten mehr Herzinfarkte und Schlaganfälle als andere Patienten.
    Laborexperimente hatten bereits in der Vergangenheit nahegelegt, dass Mikroplastik Entzündungen in Geweben hervorruft. Tierversuche hatten auch Hinweise darauf gegeben, dass die Kunststoffteilchen Gefässe, das Herz und Lungen schädigen können.
    Daraus muss gefolgert werden, dass Mikroplastik auch ein Risikofaktor für die Arterienverkalkung ist und damit ebenso für Herzinfarkte und Hirnschläge.
    Weiterlesen>>>

    Was vorbeugend tun?

    Wer nun persönlich etwas für sein Herz tun möchte, sollte Folgendes beachten:

    • Chronischer Stress vermeiden.
      Eine phantastische Studie mit sehr hoher Relevanz  (Tawakol A, et al: Lancet 2017 (online) 11. Januar 2017) zeigt nun klar, dass eine erhöhte Aktivität in der Amygdala im Hirn mit vermehrter Knochenmarksaktivität und verstärkter Entzündung der Arterien einhergeht. Diese Zusammenhänge, schlussfolgern die Autoren, können das erhöhte kardiovaskuläre Risiko der Patienten erklären. Der zugrunde liegende Mechanismus: Die Amygdala signalisiert dem Knochenmark, mehr weisse Blutkörperchen zu produzieren, die wiederum eine Plaque-Bildung in den Arterien verursachen, was zu Herzinfarkten und Schlaganfällen führen kann.
      Dass sich die Amygdala bei Stress vergrössert und eine „Schaltstation” darstellt, hat sich bereits in früheren Studien gezeigt. Ebenfalls ist bekannt, dass Entzündungsfaktoren durch Stress getriggert werden können.
    • Hier hilft es, einen Sinn im eigenen Leben zu sehen.
    • Optimal für unser Herz ist ein ausreichender aber nicht zu langer Nachtschlaf (mehr als 6-7, aber weniger als 8-9 Stunden) und manchmal eine Siesta  von 5 bis 60 Minuten ein bis zweimal pro Woche (nicht täglich).
      Nur bei Kurzschläfern (unter 7 Stunden Nachtschlaf) hat ein tägliches Mittagsschläfchen trotzdem einen Schutzeffekt auf unser Herz.
      Bei der ein- bis zweimaligen Siesta pro Woche war das Risiko für Hirnschlag und Herzinfarkt sogar um die Hälfte reduziert.
    • Damit zusammenhängend: Ein Burnout vermeiden.
      Allein in Deutschland sterben jährlich rund 200’000 Menschen an einem sogenannten „plötzlichen Herzstillstand„. In nur etwas mehr als 10% sind Risikopatienten betroffen, die nach einem Herzinfarkt bereits an einer Herzmuskelschwäche litten oder andere Herzerkrankungen hatten.
      Auch wenn das Ereignis selbst aus heiterem Himmel zu kommen scheint, lassen sich im Nachhinein oft klassische Alarmzeichen für ein Burnoutsyndrom ausmachen. Dazu zählt eine längere Phase mit chronische depressiver Stimmungslage durch etwa eine belastende Arbeitssituation, finanzielle Sorgen oder eine frustrierende Beziehungs- oder Familienkonstellation voraus. Akuter Ärger, Angst oder andere Aufregung sind dann meist nur der Auslöser.
      In den meisten Fällen wären mehr körperliche Bewegung, ein gezieltes Stressmanagement oder Entspannungstechniken ausreichend und könnten das Risiko für einen plötzlichen Herztod stark senken.
    • Regelmässiger Bewegungs-Mix, aber mässig (kein langzeitiger und anstrengender Ausdauersport).
      Vielleicht reicht aber auch Bewegung am Wochenende (siehe hier).
    • Je weniger TV und Internet-Konsum, umso weniger Herz-Kreislaufkrankheiten. In der oben erwähnten SUN-Studie war bereits 2 Stunden TV/Internet täglich mit einer Zunahme der Herzinfarktrate um 40% verbunden.
      Es ist vor allem das Sitzen, das langzeitig das Leben massiv verkürzt.
    • Blutfette von Hausarzt bestimmen lassen (wichtigster Wert ist hier der Quotient Totalcholesterin durch das HDL-Cholesterin: sollte unter 5 sein).
    • Hohen Blutdruck therapieren.
    • Viel lachen, lieben und sich sozial gut einbetten.

    Ernährung

    • Die CORDIOPREV-Studie ist eine der umfangreichsten randomisierten Studien, die jemals im Rahmen der Ernährungsforschung durchgeführt wurden. (Delgado-Lista J, Alcala-Diaz JF, Torres-Peña JD, Quintana-Navarro GM, Fuentes F, Garcia-Rios A, et al. Long-term secondary prevention of cardiovascular disease with a Mediterranean diet and a low-fat diet (CORDIOPREV): a randomised controlled trial. Lancet. 2022 May 14;399(10338):1876-1885. [Link])

      Die Resultate der Studie leiten einen Paradigmenwechsel ein: Patientinnen und Patienten mit einer koronaren Herzerkrankung kann künftig nicht mehr generell zu einer fettreduzierten Diät geraten werden. Einer mediterranen Diät kommen deutliche Vorteile hinsichtlich Kardioprotektion zu. Die Ernährungsempfehlungen vieler Leitlinien zur Sekundärprävention sind umzuschreiben. (Zitat: infomed screen Jahrgang 26/2022)
      Zur mediterranen Ernährung muss gesagt werden: Eine mediterrane Diät ist mehr als nur die Zusammensetzung von Mahlzeiten. Sie ist Ausdruck von Tradition und einer ritualisierten Lebensführung, bei der die Verwendung ausgesuchter Produkte, die Zubereitung und das entspannte Geniessen im Kreis der Familie oder mit Freunden eine grosse Bedeutung haben. Menschen in Südeuropa bestätigt die Studie darin, zu tun, was sie immer schon getan haben. Inwieweit Leute in Nord- und Mitteleuropa von den Erkenntnissen profitieren, bleibt eine unbeantwortete Frage. Sie werden es vielleicht nur dann, wenn sie einen mediterranen Lebensstil übernehmen – und nicht nur einen mediterranen Speiseplan.

    • Wenig oder kein Fleisch – und als Proteinlieferant Hülsenfrüchte und Nüsse:
      Es gab immer wieder einzelne Studien, die keinen gesundheitsförderlichen Effekt finden konnten, wenn Menschen auf Fleisch verzichteten. Diese Studien hatten aber ausser Acht gelassen, wodurch das Fleisch ersetzt wurde. Später zeigte eine bahnbrechende Untersuchung der Harvard University, dass der Fleischverzicht nur dann keinen positiven Effekt hat, wenn man statt Fleisch vermehrt Kohlenhydrate wie Kartoffeln oder Nudeln isst. Ersetzt man es dagegen durch pflanzliche Proteine aus Hülsenfrüchten und Nüssen, gibt es grosse positive Effekte auf das Herz-Kreislauf-System.
      Menschen, die regelmässig Nüsse essen, senken ihr Risiko für Herzinfarkt und Schlaganfall massiv. Nüsse enthalten sekundäre Pflanzenstoffe wie Polyphenole, die den Körper vor oxidativem Stress schützen, etwa durch Rauchen oder Alkohol. Diese Stoffe tragen sicher zum positiven Effekt bei. Viele Übersichtsartikel spekulieren darüber, welche Polyphenole und anderen Stoffe genau wirken, doch genau wissen wir es nicht. Deshalb lässt sich die Zusammensetzung der Nuss nicht in einer Pille nachahmen. Die Genialität der Natur bleibt unerreicht. Offenbar ist es der besondere Mix aus gesunden Fettsäuren und Pflanzenstoffen, der diesen positiven Effekt bewirkt.Fett ist nicht grundsätzlich schlecht. Im Gegenteil: Gesunde Fette verdienen eine andere Bewertung. Das zeigen viele Studien deutlich. Versuchsgruppen ernährten sich mediterran und erhielt zusätzlich einen Liter Olivenöl pro Woche mit der Anweisung, täglich mindestens vier Teelöffel zu konsumieren. Sowohl die Nuss- als auch die Olivenölgruppe nahmen im Schnitt mehr Kalorien und Fett zu sich, legten jedoch nicht an Gewicht zu und erlitten weniger kardiovaskuläre Ereignisse als die Kontrollgruppe, die bewusst fettarm ass.Was tun, wenn man keine Nüsse essen kann? Nüsse sind gesund, doch manche Menschen reagieren allergisch. Ernährungsfachleute betonen, dass gesunde Ernährung nicht von einzelnen Lebensmitteln abhängt. Entscheidend ist eine ausgewogene Mischung. Die wertvollen Nährstoffe der Nüsse finden sich auch anderswo. Leinsamen und Sonnenblumenkerne liefern viele Omega-3-Fettsäuren, ebenso fetter Seefisch wie Lachs, Hering oder Makrele. Sekundäre Pflanzenstoffe stecken in vielen pflanzlichen Lebensmitteln. Beeren, Brokkoli, Weißkohl und blaue Trauben sind reich an Polyphenolen…
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    • Kein Trinkwasser aus Plastikflaschen.
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    • Ein Review des Prevention of Cardiovascular Disease Council des American College of Cardiology (ACC) liefert aktuelle, evidenzbasierte Daten zum guten Essen für das Herz.
      Die Liste der Lebensmittel, die den ACC-Experten zufolge komplett vermieden – oder zumindest sehr stark eingeschränkt – werden sollten, ist kurz:
      Keine zugesetzten Zucker und Energy-Drinks – wenig Fleisch.
      Für Milchprodukte ist die Evidenz, ob sie günstig sind, fraglich.
      Für segensreich halten die Experten aber unter anderem Hülsenfrüchte, Kaffee, Tee und hochwertige Pflanzenöle (Oliven-, Lein- und Rapsöl).
      Besonders wichtig ist laut den Experten, dass man viel Früchte und Gemüse, Vollkornprodukte, wenig Zucker und wenig verarbeitete Lebensmittel isst.
      Am besten schneidet hier neben der mediterranen die sogenannte Dash-Diät ab: Sie besteht aus viel Gemüse, Früchten, Vollkornprodukten, Nüssen, Fisch und wenig Fleisch. Zudem vermeidet man Salz, Zucker und gesättigte Fette.
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    • Schädliche Lebensmittel fürs Herz:
      Wenig überraschend schneidet Zucker katastrophal schlecht ab. Es existiert mittlerweile mehr als genug, auch qualitativ hochwertige Evidenz dafür, dass zugesetzter Zucker die Entstehung von Atherosklerose fördert und das Risiko für Herz-Kreislauf- sowie Stoffwechselerkrankungen erhöht.
      Auf die rote Liste gehören auch die schnell verfügbaren Kohlenhydrate in Weissmehlprodukten, sei es der Pizzateig, das helle Brot oder der Butterkeks, denn diese verursachen Blutzuckerschwankungen wie es Zucker selbst tut. Schaden oder Nutzen von Milchprodukten, fermentierten Lebensmitteln und Meeresalgen ist unklar:
      Bei zwei Lebensmittelgruppen reicht die Evidenz nicht aus, um eine klare Empfehlung für oder gegen den Verzehr auszusprechen. Zum einen sind dies Milchprodukte wie Käse, Sahne oder Milch (allerdings nicht Joghurt), zum anderen fermentierte Lebensmittel (also z.B. Joghurt) und Meeresalgen.
      Qualitativ hochwertige Studien, dass fermentierte Lebensmittel einen kardiovaskulären Nutzen haben, stehen noch aus.  Allerdings sei es unwahrscheinlich, dass der Konsum irgendeinen gesundheitlichen Schaden nach sich zieht.
      Speziell für den Joghurt gilt, wie bei den anderen Milchprodukten auch, dass er sich bezogen auf die kardiovaskuläre Gesundheit neutral oder sogar positiv auswirkt.
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    • Ein günstiger Einfluss von regelmässigem Kaffeekonsum  gegen kardiovaskuläre Erkrankungen ist bereits häufiger berichtet worden.Im spanischen SUN-Projekt, an dem 2017 rund 20’000 teilnehmen, wurde eine inverse Assoziation zwischen dem Kaffeekonsum und der Gesamtmortalität gefunden. Bei Personen, die 4 Tassen täglich konsumierten war die Sterblichkeit um 65% geringer als bei Personen, die nie oder fast nie Kaffee tranken. Besonders deutlich zeigte sich der Zusammenhang bei über 45-Jährigen.
      Die Meta-Studie „Habitual Coffee, Tea, and Caffeine Consumption, Circulating Metabolites, and the Risk of Cardiometabolic Multimorbidity“ zeigt 09/2024 den Nutzen von Kaffeekonsum wieder als U-förmige Kurve, die darauf hindeutet, dass der optimale Wert für den täglichen Konsum bei etwa 3 Tassen Kaffee oder Tee (oder 250 mg Koffein) liegt. Ein Standard-Energydrink enthält etwa 120 mg Koffein.
    • Dann täglich viel frisches Obst, Gemüse und Nüsse (eine Handvoll täglich – siehe die „Evidence based medicin“-Studie darüber), ein Glas Wein (mit einem Fragezeichen) und täglich 2-3 Tassen grünen Tee täglich trinken. (Kuriyama S et al. Green tea consumption and mortality due to cardiovascular disease, cancer, and all causes in Japan: the Ohsaki study. JAMA. 2006; 296(10):1255–1265.  Suzuki E et al. Green tea consumption and mortality among Japanese elderly people: the prospective Shizuoka elderly cohort. Ann Epidemiol. 2009; 19(10):732–739)
      Hier spielt auch viel Kalium (und wenig Natrium – also wenig Kochsalz) eine Rolle: Sehr kaliumhaltig sind Bananen, Spinat, Broccoli, Nüsse und Vollkorn.
      (mehr zum „gesunden Kalium“ im Essen)
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    • Dies gehört alles auch zur bereits genannten mediterranen Ernährung – mit viel Oliven- oder Leinöl.
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    • Wer mit einem ausgiebigen Frühstück – und viel Zeit den Tag beginnt, hat auch ein deutlich verringertes Herzinfarktrisiko! Gemäss verschiedener grossen Studien (v.a. Circulation. 2013; 128: 337-343, Prospective Study of Breakfast Eating and Incident Coronary Heart Disease in a Cohort of Male US Health Professionals, Leah E. Cahill et al.). Diejenigen Männer, die das Frühstück ausliessen, hatten dabei ein 27% höheres Risiko, einen Herzinfarkt zu erleiden als jene, die den Tag zum Beispiel mit einem Müesli begannen. Nach Ansicht der Forscher bestätigt die Studie, dass das Frühstück wohl die wichtigste Mahlzeit des Tages ist.
      Ideal ist, wenn das Frühstück mit geschrotetem Vollkorn (im Müesli) – anstatt Backwaren, wie Brot! – viel unbearbeiteten Ballaststoff enthält. Viel Ballaststoff im Essen lassen auch Leute mit Herzinfarkt viel länger Leben! (Li S, et al. BMJ.2014;348:g2659).
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    • WENIG ROTES FLEISCH
      Man sollte auch auf seine (gute) Darmflora, d.h. jene rund 100 Billionen Bakterien aufpassen und sie gut pflegen. Was heisst dies konkret?!
      Normalerweise leben die Vertreter der Darmflora (Mikrobiom) einträchtig mit ihrem Wirt. Sie verdauen für uns komplexe Kohlenhydrate, mit denen menschliche Enzyme nicht umgehen können. Und sie wehren auch Infektionen krank machender Bakterien ab.
      Nun wird zum Beispiel das Carnitin im roten Fleisch (Rind, Schwein oder Lamm) von den Darmbakterien zu Trimethylamin verdaut, das dann in der Leber zu Trimethylamin-N-Oxid (TMAO) umgewandelt wird. Carnitin verstärkt u.a. auch die schädliche Wirkung vom Cholesterin. Dies löst eine Kette von Ereignissen aus, die letztlich zu einer Arteriosklerose (Versteifung der Arterien) führt und damit auch zum Herzinfarkt, Hirnschlag,…!
      Es hat sich nun gezeigt, dass ein Vegetarier ein Steak essen kann und dass sich dann die (ideale) Zusammensetzung seiner Darmbakterien diesen TMAO-Spiegel nicht erhöhen lassen! Vegetarische Ernährung ergibt also eine fürs Immunsystem und für unsere Blutgefässe optimale Darmflora.
      >>> Weiterlesen > dr-walser.ch/darmflora/
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    • Er wäre darüber hinaus gut beraten, sich mehr mit Fisch als Fleisch zu ernähren (Herzinfarkt-Patienten können durch eine Umstellung ihres Speiseplans auf mediterrane Kost das Risiko eines erneuten Infarkts um etwa die Hälfte senken. (Zu diesem Ergebnis kommt die Lyon-Studie 1999. Von 200 Patienten, die nach einem Infarkt bei der gewohnten Ernährung blieben, erkrankten in den folgenden vier Jahren  etwa die Hälfte erneut am Herzen. Weitere 200 Patienten stiegen auf die fettärmere Kost Südeuropas um. Von dieser Gruppe erlitten weniger als ein Viertel einen neuen Infarkt. Ein vergleichbares Resultat erreichte bisher kein Medikament.).
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    • Genügend Wasser trinken kann das Herzinfarktrisiko um 40 Prozent senken. Dies fand ein Forscherteam der Loma Linda-Uni in den USA (www.llu.edu/news/pr/042502water.html) bei der Untersuchung von 20’000 Leuten. Es zeigte sich, dass sich das Risiko für tödliche Infarkte bei Männern, die mehr als einen Liter Wasser tranken, sogar halbierte.
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    • Und: eine Unterfunktion der Schilddrüse abklären lassen (TSH-Bestimmung im Blut) und behandeln.
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    • Eine Parodontitis (Zahnbett-Entzündung) muss unbedingt gut behandelt werden (Interedentalbürstchen & Zahnseide benützen). Menschen mit „Zahnfleischentzündung“ erleiden doppelt so oft Herzinfarkte, dreimal häufiger Schlaganfälle (und siebenfach mehr Frühgeburten).
      Sowieso scheint die Gesundheit im Mund und der Zähne eine starke Beziehung zu derjenigen des Herzens zu haben. Es ist also sehr ratsam, dass man eine sehr gute Hygiene der Zahnpflege (inklusive Reinigung der Zungenoberfläche!) ausübt. (BMJ 340:c2451, 27 May 2010 © 2010 de Oliveira et al Toothbrushing, inflammation, and risk of cardiovascular disease: results from Scottish Health Survey. Cesar de Oliveira, Richard Watt, and Mark Hamer.)
      Mehr zur optimalen Zahnpflege, welche auch unsere Darmflora reicher macht.
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    • Wer schnarcht, lebt gefährlich. Will heissen: Wer unter Apnoe („nächtlicher Atemstillstand“) leidet. Die Schlafstörung sollte ernst genommen werden, da der teilweise minutenlange Atemausfall den Blutdruck dramatisch in die Höhe treiben und das Herz schädigen kann. Wer nachts schnarcht und sich tagsüber meist müde fühlt, sollte nicht zögern, sich in einem Schlaflabor untersuchen zu lassen: Apnoe wird in neun von zehn Fällen nicht erkannt. Die Behandlung – ein kleines Atemgerät – ist einfach und effizient.
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    • Ein eigentliches Gesundheitsrisiko für das Herz ist auch der „Ärger mit dem Ärger“
      Wie gefährlich der Ärger für das Herz ist, verdeutlicht eine amerikanische Langzeitstudie, bei der Menschen, die – in ihrem Leben zu „cholerischen Reaktionen“ neigten und sich schnell ärgerten, eine im Vergleich mit ihren ärger- ärmer lebenden Zeitgenossen um das Siebenfache höhere Sterblichkeit zeigten. Die permanente Inszenierung des Ärgers war danach für die Gesundheit sogar gefährlicher als klassische Risikofaktoren wie Rauchen und Bluthochdruck. Es spielt dabei überraschenderweise für das Herz keine Rolle, ob man den Ärger in sich „hineinfrisst“ oder beim Sich-Ärgern aus der Haut fährt.
      Das heisst also: Nicht der Zorn als solcher, sondern ihn ausdrücken oder ihn zu unterdrücken, schädigt die Gefässe.
      Seien Sie also nett zu Ihren Mitmenschen. Feindselige Einstellungen der Umwelt gegenüber, die Anderen verbal oder physisch angreifen , erhöht die Blutfette. (Karen Matthews et al, Duke University Med.Center, Annals of Behavioral Medicine, Vol.20, 1998)
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    • Dazu gehört auch die Wut:
      Wut schädigt Blutgefässe: Wut ist schlecht fürs Herz. Wer öfter wütend ist, hat ein höheres Risiko für Herzinfarkt oder Schlaganfall. Nun haben Forscherinnen der Columbia University in New York herausgefunden, warum das so ist: Wut führt dazu, dass sich die Blut­gefässe weniger gut dehnen können. Denn das Gefühl beeinträchtigt die Funktion des sogenannten Endothels, der Innen­auskleidung der Blutgefässe. Und das wiederum ist die Vorstufe für die Entstehung von Atherosklerose, einer Gefäss­erkrankung, die zu Herz­infarkten und Schlag­anfällen führen kann. Den Zusammen­hang zwischen Blut­gefässen und Gefühl fanden die New Yorker Forscher nur bei Wut, nicht aber bei Trauer oder Angst.
    • Meditation und ähnliche Entspannungsmethoden haben auf das Herz eine ähnlich beruhigende Wirkung wie die üblichen Beta-Blocker – nur ohne Nebenwirkungen.
    • Der Parasympathikus kräftigen ist sehr weise.
      Weiterlesen >>> parasympathikus/
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    • Alle Nichtsteroidale Schmerzmittel (NSAR) sind riskant für Herz und Gefässe! Sie erhöhen das Risiko von Herzinfarkt, Schlaganfall und kardiovaskulär bedingtem Tod. Am günstigsten schnitt Naproxen ab, war aber immerhin mit einem Schlaganfallrisiko von 1,76 behaftet und in der Regel nur zusammen mit einem PPI (Magenschonmittel) verträglich. Unter Ibuprofen ist das Schlaganfallrisiko mehr als verdreifacht, unter Diclofenac fast verdreifacht, unter Etoricoxib auf 2,67 erhöht. Kardiovaskuläre Todesfälle wurden nur durch Naproxen nicht erhöht, durch Celecoxib verdoppelt, durch Ibuprofen mehr als verdoppelt (2,39), durch Diclofenac und Etoricoxib vervierfacht! (BMJ 2011; DOI;10.1136/bmj.c7086)
      Eine Metaanalyse von 4 Studien an über 61’000 Menschen mit und 385’000 ohne Herzinfarkt hat 2017 ziemlich beunruhigende Resultate ergeben, da diese Steigerung der Herzinfarktrate bereits nach einer Woche NSAR-Einnahme eintrat! (Bally M, et al. BMJ.2017;357:j1909).
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    • Wir sind ja meist überzeugt, dass Ausdauersport gesund ist und er unser kardiovaskuläres Risiko reduziert. Eine belgische Forschergruppe belehrt uns nun eines Besseren (Studie).
      Sie verglichen das Ausmass der Koronarsklerose (Verkalkung der Herzkranzgefässe) von 191 lebenslangen Ausdauersportlern mit 191 Späteinsteiger-Ausdauersportlern (Beginn nach dem 30. Lebensjahr) sowie mit 176 gesunden Nicht-Athleten, die in ihrem Leben keinen Ausdauersport betrieben hatten. In allen drei Gruppen handelte es sich nur um Männer mit einem medianen Alter von 55 Jahren. Keiner der Probanden war Raucher, keiner war übergewichtig und bei keinem war eine koronare Herzkrankheit bekannt. Die Koronarsklerose wurde mittels Computertomographie quantifiziert: Anzahl und Lokalisation von Plaques, Verkalkungs-Score und -Häufigkeit sowie Stenosegrad der Koronarien. Überraschend fand sich eine Dosis-Wirkungs-Beziehung, das heisst je länger der Ausdauersport betrieben wurde, desto wahrscheinlicher fand sich eine relevante Koronarsklerose. Die Parameter, die für eine ischämische Herzkrankheit prädestinieren, waren bei den lebenslangen Ausdauersportlern am höchsten: Anzahl Plaques, proximale Plaques, signifikante Stenosen und gemischte Plaque-Verkalkungen. Bei den Nicht-Sportlern waren sie am geringsten, die Späteinsteiger lagen meist dazwischen.Stopp Ausdauersport überhaupt?! Ist dies die anatomisch-pathologische Erklärung des Sport-Paradoxes «plötzlicher Herztod bei Athleten»? Die Autorenschaft schlägt vor, die Studie zeitlich noch auszudehnen, um auch entscheidende kardiovaskuläre Ereignisse zu erfassen.Hatte Winston Churchill doch recht? Auf die Frage eines Reporters, warum er trotz Whisky und Zigarrenrauchen so alt geworden sei, soll er geantwortet haben: «No sports». Er starb im Alter von 91 Jahren. Was er aber verschwieg: Er hatte immer Hunde und ging mit ihnen lange spazieren, was wohl den entscheidenden Bewegungs-Mix ergab.


    • Auch auf das Wochenende beschränkte Bewegung ist bereits fürs Herz günstig.
      Beim heutigen Lebensrhythmus mit einem hohen Anteil an sitzender Tätigkeit kommen immer mehr Menschen nur am Wochenende dazu, sich zu bewegen. Es ist unklar, ob dieses Verhaltensmuster – im angelsächsischen Sprachraum «Weekend Warrior» (Wochenend-Kämpfer) genannt – langfristig ebenso gesund ist wie regelmässige Bewegung. Die vorliegende Kohortenstudie spricht dafür – bei «Weekend Warriors» war die Sterblichkeit (Gesamtsterblichkeit, sowie Herz-Kreislauf- und Krebs-Sterblichkeit) gegenüber gänzlich inaktiven Personen in ähnlichem Mass verringert wie bei solchen mit regelmässiger körperlicher Aktivität. (O’Donovan G, Lee IM, Hamer M et al. Association of „weekend warrior“ and other: leisure time physical activity patterns with risks for all-cause, cardiovascular disease, and cancer mortality. JAMA Intern Med 2017 (1. März); 177: 335-42) .
      Falls man bereits eine KHK hat,scheint es am optimalsten, falls alle 20 Minuten Inaktivität (Sitzen, Liegen) 7 Minuten leichte körperliche Aktivität/Bewegung folgt. (Ramadi A et al.: Relationship between breaks in sedentary behaviour and free living physical activity … in individuals with coronary artery disease. ePoster Canadian Cardiovascular Congress, Oct. 2018, Toronto)
      Oder:

    • HIIT: einmal pro Stunde 20 Sekunden Sprint auf der Stelle…
      Ganz so wenig Mühe kostet es doch nicht, was Wissenschaftler im Fachblatt Medicine and Science in Sports and Exercise vorstellen. Das Team der University of Texas in Austin testete Freiwillige, die auf einem feststehenden Ergometer mit Schwungrad vier Sekunden lang alles gaben. Nach einer Pause von 45 Sekunden ging es erneut für vier Sekunden in die Vollen, insgesamt fünfmal. Stündlich wiederholten die Probanden die Belastung über acht Stunden hinweg, also die Länge eines Arbeitstages.
      In der Sportmedizin galt lange die Auffassung, dass Ausdauer optimal trainiert, wer dreimal pro Woche 50 Minuten joggt, radelt, schwimmt oder rudert. Mit regelmässig 150 Minuten wöchentlich könne, so die Annahme, das Leben um mehrere Jahre verlängert werden. In jüngster Zeit setzte sich die Erkenntnis durch, dass intensive Belastungen von über 6 Stunden pro Woche für unser Herz und Kreislauf sehr schädlich sind, aber solche von 75 Minuten pro Woche in kleinen Einheiten ähnlich nützlich sind. «Weekend Warrior», also gestresste Managertypen, die nur Samstag oder Sonntag Läufe oder Radtouren unternehmen, hören das sicher gerne (aber bitte nicht auch noch leistungsbetont, selbstoptimiert!).
      Nun wird das Training sogar in den Sekundenbereich verknappt.
      Ich finde das super – wenig bringt schon ganz viel! Einmal pro Stunde 20 Sekunden wären im Alltag aber leichter umzusetzen und genauso sinnvoll. Statt des Trainingsrades könne ein Sprint auf der Stelle oder ein schneller «Hampelmann» ähnliches leisten. Auch draussen im Grünen kann ein kurzer Anstieg mal besonders schnell gemacht werden.
      Die Studie hält wichtige Anregungen bereit: Kurz das sesshafte Leben unterbrechen und ein paarmal täglich ausser Atem kommen, stimuliert genussvoll Muskeln, Leber und Kreislauf. Würde man die Menschen so auf zehn Minuten intensive Betätigung am Tag bringen, wäre die Rate der Herzkreislaufkrankheiten halbiert!
      (Studien hier & hier)

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    • Fluglärm ist ein kardiovaskulärer Risikofaktor.
      (1) Hansell AL, Blangiardo M, Fortunato L et al. Aircraft noise and cardiovascular disease near Heathrow airport in London: small area study. BMJ 2013 (8. Oktober); 347: f5561
      2) Correia AW, Peters L, Levy JI et al. Residential exposure to aircraft noise and hospital admissions for cardiovascular diseases: multi-airport retrospective study. BMJ. 2013 (8.Oktober); 347: f5561)

      In diesen zwei Studien wurde der Zusammenhang zwischen der Belastung durch Fluglärm und kardiovaskulären Erkrankungen untersucht. In London (3,6 Mio. Personen rund um den Flughafen Heathrow) war das relative Risiko, wegen eines Schlaganfalls oder einer akuten kardiovaskulären Erkrankung hospitalisiert zu werden, signifikant erhöht, wenn die Region mit der höchsten Lärmbelastung (über 63 dB) mit derjenigen mit der geringsten (unter 51 dB) verglichen wurde. In der US-Studie (6 Mio. Personen in der direkten Umgebung von 89 Flughäfen) waren die Zuweisungsraten für akute kardiovaskuläre Erkrankungen bei einer Zunahme der Lärmbelastung um 10 dB um jeweils 3,5% höher. Eine kausale Bedeutung weiterer Umweltfaktoren konnte für die Faktoren Luftverschmutzung und Verkehrslärm in der US-Studie ausgeschlossen werden.
      >>> Lärm als Dauerstress >>>
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    • Mehr Raum im Oberkörper tut dem Herzen und seinem Kreislauf sehr gut! Als Menschen (mit der Wirbelsäule im Brustraum hinten im Rücken) verkürzen wir im Leben vor allem vorne in der Frontallinie und leiden häufig im Alter an einem Rundrücken. Eine Verlängerung der Frontal- und Mittellinie und damit mehr Innenraum und mehr Aufrichtung im Oberkörper können strukturelle Methoden erreichen, deren Ziel eine grössere „Tiefenaktivität“ der innen gelegenen Rumpfstabilisatoren (und eine Entspannung der oberflächlichen Rumpfhülle) ist: Alexandertraining, Polarity, Rolfing,…

      Katzen haben schon immer gewusst, was sich gegen eine Verkürzung der Vorderwand machen lässt:
       
      und als Mensch auf zwei Beinen tut man dies am besten gegen eine Wand –
      und dies ist die beste Übung gegen einen Rundrücken!
      hier auf dieser Website >>>

    A-B-Typologie durch Friedman und Roseman:

    Den sog. A-Typ könnte man auch einen „Sympathikotoniker“ nennen.
    Weiterlesen >>>
    Diese Untersuchungen stammen zum grössten Teil aus medizinischen Untersuchungen zu koronargefährdendem Verhalten. Die so genannte Typ-A-Persönlichkeit hat zur Erklärung von Herz-Kreislauferkrankungen  besondere Beachtung gefunden (inzwischen weiss man, dass nicht jede Typ-A-Person einen Herzinfarkt erleiden wird; auch die entspannteren Typ-B-Persönlichkeiten bleiben nicht von koronaren Herzkrankheiten verschont).
    Typ A Verhalten ist gekennzeichnet durch:
    Starke Wettbewerbsorientierung: diszipliniert, tüchtig, verantwortungsbewusst, dominierend, aggressiv, feindselig.
    Neigung zu extremer Verausgabung: verspannt, überlastet, gestresst, immer in Zeitnot, ungeduldig.
    erhöhte Reizbarkeit und Gereiztheit im Zusammenhang mit Neurotizismus und Tendenzen zu Angst und Depression.
    psychophysisches Risikoverhalten: unregelmässige Ernährung, mangelnde Körperbewegung im Wechsel mit sportlichen Höchstleistungen, wenig kontrollierter Genussmittelkonsum, Schlafdefizite.
    Typ A ist ebenfalls durch ein spezifisches Muster von Coping-Strategien gekennzeichnet, z.B. versucht er immer mehr in immer weniger Zeit zu erreichen. Doch nicht die hohe Leistungsorientierung, sondern die defensive Komponente (Feindseligkeit) hat sich in späteren Untersuchungen als das zentrale krankheitsfördernde Merkmal herausgestellt.
    Eine feindselige Haltung gegen Mitmenschen führt zu einem höheren Herzinfarktrisiko als Fettleibigkeit, Rauchen und hohe Blutfettwerte! Das fanden US-Psychologen heraus, die drei Jahre lang 774 ältere Männer beobachteten. Durch permanente Antipathie führen sich die Betroffenen selbst Stress zu. Dieser Stress könnte etwa zu schädlichen hormonellen Reaktionen oder zu Herzrhythmusstörungen führen, vermuten die Forscher. Knapp sechs Prozent der Probanden, die sich auf Grund eines Fragebogens als sehr feindselig erwiesen hatten, bekamen in dieser Zeit eine Erkrankung der Herzkranzgefässe. In einer zweiten Studie wurden 792 ältere Frauen beobachtet: Die Gruppe mit der grössten Feindseligkeit hatte eine doppelt so grosses Risiko einen Herzinfarkt zu erleiden wie die Gruppe mit der kleinsten Feindseligkeit (Am J Epidemiol 2002 Dec 15;156(12):1092-9).

    Das Risiko abschätzen

    Ist dieser Brustschmerz vom Herz (gefährlich) oder (nur) aus der Brustwand (Verspannung der Weichteile)?

    Falls Sie an einem Schmerz auf der Herzseite (links) Ihres Brustkorbs leiden. Wie wissen Sie, ob ein Herzinfarkt dahinter steckt?

    Fünf Eigenschaften lassen eine koronare Herzkrankheit besonders gut vorhersagen:

    • Alter (Frauen über 64, Männer über 54 Jahre)
    • bekannte Gefässerkrankung (Arterienverkalkung)
    • anstrengungsabhängige Schmerzen
    • durch Tasten oder Bewegung im Brustraum-Arm nicht auslösbare Schmerzen
    • und die Überzeugung der Betroffenen, ihre Schmerzen seien vom Herzen ausgehend.

    Die beste Vorhersagekraft kann erzielt werden, wenn der Score ab 3 erfüllten Punkten als positiv gewertet wurde.
    (Studie: Bösner S, Haasenritter J, Becker A et al. Ruling out coronary artery disease in primary care: development and validation of a simple prediction rule. CMAJ 2010 (7. September); 182: 1295-300)

    Der einfachste Test: 40 Liegestützen

    Wenn eine Ärztin prüfen will, wie gesund das Herz eines Patienten ist, macht sie mit ihm einen Leistungstest – idealerweise auf dem Fahrradergometer oder dem Laufband. Doch das ist zeitaufwendig, und die wenigsten Arztpraxen verfügen über die teuren Sportgeräte.

    Jetzt könnte allerdings noch eine dritte Testmöglichkeit dazukommen – eine, die jeder Hausarzt durchführen kann und die nur ein bis zwei Minuten beansprucht. Der Arzt müsste seinen Patienten einfach nur auffordern: Machen Sie einmal so viele Liegestütze, wie Sie können, und ich sage Ihnen danach, wie gesund Ihr Herz ist.

    Auf diese verblüffende Formel sind Forschende der Harvard University gekommen. Über einen Zeitraum von zehn Jahren haben sie die Daten von mehr als 1000 Feuerwehrleuten ausgewertet.

    Als Ausgangspunkt ihrer Untersuchung ermittelten die Forschenden, wie viele Liegestütze und wie viel Zeit die Männer auf dem Laufband absolvieren können, wenn sie sich submaximal verausgaben, also bei 80 bis 90 Prozent ihrer maximalen Belastungsgrenze.

    Nach zehn Jahren wurde gegenübergestellt, ob und allenfalls wie stark sich die Anzahl der machbaren Liegestütze auf die Herz-Kreislauf-Stabilität und ein mögliches Infarktrisiko der Männer ausgewirkt hatte.

    Das Ergebnis: Die Probanden, die mehr als 40 Liegestütze am Stück machen konnten, hatten ein um bis zu 96 Prozent geringeres Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen wie zum Beispiel einen Herzinfarkt. Im Laufe der zehn Jahre hatte es unter den Studienteilnehmern 37 Infarktfälle gegeben – 36 davon bei Männern, die weniger als 40 Liegestütze schafften. (Studie)

    Berechnungen

    Für die Berechnung des kardiovaskulären Risikos gibt es verschiedene Instrumente (PROCAM, EU-Score, Framingham Score).
    Wie oben schon erwähnt, sind hier die Faktoren im Vordergrund, die einfach in der ärztlichen Praxis gemessen werden können – und für die eine pfannenfertige Behandlung (meist mit Medikamenten!) bereit liegt. Diese messbaren Werte (Blutdruck, Blutfette, Blutzucker) sind aber weitgehend bereits Sekundärsymptome von viel wichtigeren Risikofaktoren, wie Dauerstress, Bewegungsarmut und Genetik.

    Der am besten validierte Score ist der Framingham Score. Gleichzeitig ist bekannt, dass auch das Vorhandensein eines Metabolischen Syndroms das Risiko für eine koronare Herzkrankheit erhöht, aber mit dem Framingham Score lässt sich das Risiko präziser vorhersagen. (Metabolic Syndrome vs Framingham Score for Prediction of Coronary Heart Disease, Stroke, and Type 2 Diabetes mellitus. Wannamehtee SG et al. Arch Intern Med 2005; 165: 2644-50:  Das metabolische Syndrom ist ein genauerer Prädiktor für das Auftreten eines Diabetes mellitus.

    Framingham-Studie

    Punkte und 5-Jahreswahrscheinlichkeit (%) für das Auftreten einer KHK (koronarern Herzkrankheit):

    Punkte%Punkte%Punkte%Punkte%
    0 bis 1< 1921762514
    211021872616
    311131982717
    411232082819
    511332192920
    6114422113022
    7115523123124
    8216524133225

    PREDICT-Studie: Abnehmendes Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse

    Was Hausärzt*innen intuitiv in ihrer täglichen Praxis schon vermuteten, erhält nun Unterstützung durch eine Untersuchung an über 400 000 PatientInnen aus Hausarztpraxen («primary care patients») in Neuseeland ohne klinisch bekannte, vorbestehende kardiovaskuläre oder renale Erkrankungen: Das wirk­liche Risiko, ein kardiovaskuläres Ereignis zu erleiden, ist deutlich geringer als in den schon etwas in die Jahre gekommenen, aber immer noch die Basis unserer Interventionen bestimmenden Risikostratifizierungen (Framingham-Daten et al.)! Bei etwa 55-jährigen PatientInnen beträgt das Risiko eines kardiovaskulären Ereignisses innerhalb der nächsten fünf Jahre lediglich 2,3% bei Frauen und 3,2% bei Männern (bei europäischer Herkunft noch tiefer).
    Ärzt*innen werden ihre Vorgehensweisen an diese veränderte Epidemiologie adaptieren müssen, um Überbehandlungen zu vermeiden. Anderseits müssen wir im Sinne der Persona­lisierung Risikopopulationen neu definieren (und erkennen) und damit Unterbehandlungenauf individueller Basis zu verhindern suchen. (The Lancet 2018, doi.org/10.1016/S0140-6736(18)30664-0)

    ESC Score¹

    10-Jahres-Risiko für tödliche kardiovaskuläre Krankheiten in europäischen Regionen mit niedrigem kardiovaskulärem Krankheitsrisiko (z.B. Schweiz):

    Dieser Score ist sehr brauchbar in der täglichen (Hausarzt-)Praxis: Man kann gut ersehen, ob z.B. die Bestimmung des Cholesterins überhaupt einen Sinn macht. Man sieht auch schnell die Wertigkeit der verschiedenen Risikofaktoren (z.B. Rauchen gegenüber Blutfetten oder Blutdruck), was sich also lohnt zu behandeln.

    Was überhaupt nicht beachtet wird, ist der Dauerstress und der Bewegungsmangel!

    Mit positiver Familienvorgeschichte für KHK muss man das Risiko in diesem Score verdoppeln – was aber neuerdings auch sehr umstritten ist (meist kleineres und sehr individuelles Risiko)! (DeBacker G et al. European guidelines on cardiovascular disease prevention in clinical practice. The Third Joint Task Force of European and other Societies on Cardiovascular Disease Prevention in Clinical Practice (constituted by representatives of eight societies and by invited experts) executive summary. Eur Heart J 2003; 24: 1601–10)

    Risikoberechnung der koronaren Herzkrankheit unter  www.kardiolab.ch : PROCAM Risk Calculator (hier ist auch Familienrisiko eingeschlossen) und speziell für Frauen: Framingham Risk Assessment.
    oder hier: www.riskscore.org.uk

    Nach einem akuten Koronarsyndrom (Herzinfarkte mit oder ohne ST-Veränderungen, instabile Angina pectoris) lässt sich auf Grund der Ergebnisse der Beobachtungsstudie GRACE (Fox KA et al. Prediction of risk of death and myocardial infarction in the six months after presentation with acute coronary syndrome: prospective multinational observational study (GRACE)). BMJ 2006 (25. November); 333: 1091-6) mit relativ einfach zu ermittelnden Angaben das Sterbe- und Reinfarktrisiko berechnen. Das vereinfachte GRACE-Modell kann als Rechner vom Internet heruntergeladen werden: www.outcomes.org/grace .

    Wir haben 3 Milliarden Herzschläge im Leben zu Gute

    Die Herzfrequenz ist ein noch viel zu wenig beachteter kardiovaskulärer Hauptrisikofaktor. Nach dem Alter, dem männlichen Geschlecht, der genetischen Prädisposition und der Hypertonie sollte die Herzfrequenz bereits an fünfter Stelle der wichtigsten Risikofaktoren aufgeführt werden.
    Es ist davon auszugehen, dass allen Menschen gewissermassen ein Kapital von rund drei Milliarden Herzschlägen auf den Lebensweg mitgegeben wird!
    Wer sparsamer damit umgeht, lebt länger, wer verschwenderisch ist, entsprechend kürzer. Mit einem Puls von 80 Schlägen pro Minute sind 71 Lebensjahre möglich, mit einer Frequenz von 100 dagegen nur 57 Jahre! Mit einer Herzfrequenz von 60 lässt sich ein Alter von 96 Jahren, mit etwas Sport und einem Ruhepuls von 50 gar von 115 Jahren erreichen! Auch bei Tieren ist übrigens die Lebenszeit frequenzabhängig. Kleine Tiere wie Mäuse mit einem Puls von 400 bis 500 Schlägen pro Minute werden nur 3 bis 4 Jahre alt, dagegen Elefanten mit einer Herzfrequenz von etwa 30 und Wale (6 bis 40 pro Minute) 30 Jahre.
    Warum ist eine geringe Herzfrequenz so vorteilhaft? bei langsamem Herzschlag dauert die Diastole länger. Eine geringe Herzfrequenz verbessert die Koronarperfusion, weil sich der Koronarfluss weitgehend auf die Diastole beschränkt, und vermindert überdies den Sauerstoffverbrauch des Herzmuskels. Ein erhöhter Puls verstärkt dagegen den oxydativen Stress und den Umbau des Herzens (Remodeling). Das Herz dilatiert (erweitert sich) also bei einer Tachykardie (hoher Puls) schneller als bei einer Bradykardie (langsamer Puls).

    Yoga mit Meditation hilft gegen Vorhofflimmern

    In dieser Studie wurden die Patienten mit paroxysmalem Vorhofflimmern zunächst mit drei Monaten sportlichen Aktivitäten ihrer Wahl behandelt. Anschliessend nahmen die Leute drei Monate lang an einem überwachten Yoga-Programm mit Atemübungen, Yoga-Stellungen, Meditation und Entspannung teil. Keiner der Probanden hatte vorher bereits Erfahrung mit den fernöstlichen Übungen.
    Es zeigte sich, dass während der Yoga-Interventions-Phase die Episoden von Vorhofflimmern um die Hälfte zurückgingen. Ausserdem verringerten sich Angst- und Depressions-Symptome und die Lebensqualität stieg.
    Als Wirkungsmechanismus werden günstige Einflüsse auf den Sympathikotonus diskutiert. (Weiterlesen zur Entspannung >>>).

    Und… gegen Vorhofflimmern hilft auch ein völliger Alkoholstopp.

    Statine – Medikamente gegen den Herzinfarkt?

    Eine Metaanalyse von 25’000 Personen (Durchschnittsalter 73 Jahre, Follow-up 3,5 Jahre), die Statine (Blutfettsenker) einnahmen oder nicht, ergab bei den Statin-Nutzern eine relative Reduktion der Myokardinfarktrate um 40% und der Schlaganfallrate um 25%!
    Die Mortalität (Sterblichkeit) jeglicher Ursache wurde durch diese Statineinnahme jedoch nicht beeinflusst!
    Welche Todesursache hätten Sie denn gern? Herzinfarkt oder Demenz?!
    (Savarese G, et al. J Am Coll Cardiol. 2013; doi:10. 1016/j.acc.2013.07.069)

    Der Albtraum beginnt danach: Posttraumatische Belastungsstörung nach einem Herzinfarkt

    Todesangst und Kontrollverlust! Wer einen Herzinfarkt hat, geht auch psychisch durch extreme Zeiten. Ungefähr jeder Zehnte leidet an einer posttraumatischen Belastungsstörung. Bei dieser Störung haben Patienten Albträume und einen gestörten Schlaf. Zudem drehen sie das Ereignis dauernd im Kopf und haben eine grosse Angst vor einem weiteren Infarkt.
    Und diese Symptome sind riskant. Sie können einen weiteren Herzinfarkt auslösen. Eine posttraumatische Belastungsstörung verdoppelt das Risiko, in den nächsten ein bis zwei Jahren an einem weiteren Herzinfarkt zu sterben.
    Je grösser die psychische Belastung nach dem Herzinfarkt, desto höher ist das Risiko für einen erneuten Aufenthalt im Spital. Forscher vermuten, dass traumatisierte Patienten weniger gut auf die Gesundheit achten. So schaffen es traumatisierte nach dem Herzinfarkt zum Beispiel seltener, das Rauchen aufzugeben oder ihre Medikamente regelmässig einzunehmen.
    Prophylaktisch ist entscheidend, die Symptome früh zu erkennen. Dabei sind vor allem die Spitäler gefordert. Das Personal der Herzabteilungen spielt dabei eine entscheidende Rolle, wenn es darum geht, traumatische Reaktionen zu verhindern. Ärzte und Pflegepersonal sollten die verunsicherten Herzpatienten ernst nehmen und ihnen mit einer guten Aufklärung und Beratung wieder Sicherheit vermitteln. Herzspezialisten sollten in den ersten Monaten nach einem Herzinfarkt psychische Symptome immer wieder gezielt erfragen. So könnte man dem Patienten bei Bedarf früh eine Psychotherapie bieten.
    Besonders gefährdet sind Patienten über 60 Jahre ist. Sie erleiden eher eine posttraumatische Belastungsstörung. Der Grund: Mit steigendem Alter kann man weniger gut mit Stress umgehen und man wird schmerzempfindlicher. Auch Menschen ohne funktionierendes soziales Netz und die bereits an einer psychischer Krankheit leiden, sind mehr gefährdet.
    Auch Patienten können vorbeugen: Ein Herzinfarkt hinterlässt das Gefühl, dass etwas mit dem Körper nicht in Ordnung ist. Daher sollte man wieder positive Erfahrungen machen. Dabei hilft Bewegung. Ausserdem sollen Patienten mit Freunden, Ärzten und Therapeuten über ihre Ängste sprechen. Man sollte zudem versuchen, im Herzinfarkt einen Sinn zu erkennen. Zum Beispiel, indem man ihn zum Anlass nimmt, das Rauchen aufzugeben, sich gesünder zu ernähren oder sich mehr zu bewegen.
    Das hilft nach dem Herzinfarkt:
    – Sprechen Sie mit vertrauten Menschen über Ihre Erlebnisse.
    – Machen Sie regelmässiges Bewegungstraining wie Gehen, Gymnastik oder Übungen am Heimtrainer. Auch Schwimmen, Langlauf, leichtes Joggen und Fahrradfahren eignet sich. Tun Sie das, was Ihnen Freude macht.
    – Vermeiden Sie Stress.
    – Machen Sie Entspannungstraining wie autogenes Training, progressive Muskelentspannung oder Yoga. Es hilft gegen Nervosität, Herzjagen und hohen Blutdruck.
    – Ernähren Sie sich abwechslungsreich und gesund: mit wenig tierischem Fett, wenig Zucker, viel Obst und Gemüse.
    – Achten Sie auf Ihr Gewicht
    – Lassen Sie sich regelmässig vom Arzt untersuchen
    – Gehen Sie den Ursachen des Herzinfarktes auf den Grund: Welche Prioritäten habe ich bis jetzt im Leben gesetzt? >>> Weiterlesen in dieser Website.
    – Suchen Sie Hilfe bei Problemen am Arbeitsplatz oder in der Familie.
    Mehr Infos:
    Weiterlesen über die (allgegenwärtige) Todesangst >>>
    Merkblatt «Empfehlungen für den Umgang mit belastenden Ereignissen», herausgegeben vom Bundesamt für Bevölkerungsschutz und der Föderation Schweizer Psychologinnen und Psychologen: www.nfszh.ch/hilfen-fuer-betroffene

    Veröffentlicht am 15. Juni 2017 von Dr. med. Thomas Walser
    Letzte Aktualisierung:
    16. Januar 2025

  • Histaminintoleranz

    Nahrungsmittelunverträglichkeit

    Von den 20% der Menschen, die an Nahrungsmittel-Unverträglichkeit  leiden, haben nur 10% eine echte Nahrungsmittel-Allergie, also nur etwa 2-4% der Gesamtbevölkerung! Dann 40% eine Kreuzreaktion mit Pollen und 50% eine Fruktose-, Laktose– oder Histamin-Intoleranz (je zu einem Drittel etwa). Daneben ist noch die Zöliakie, die Pseudoallergie und psychische Unverträglichkeit (Bestimmte Nahrungsmittel werden nicht vertragen, weil sie der eigenen Überzeugung widersprechen.) abzugrenzen.

    Histaminintoleranz – eine Pseudoallergie

    Histamin ist eine biologisch hochpotente Substanz: Es reguliert unter anderem die Magensaftsekretion, erweitert die Gefässe, wirkt als Wachstumshormon und Neurotransmitter im Gehirn und wird auch mit einer verbesserten Lernfähigkeit in Zusammenhang gebracht. Und es ist absolut hitze- und kältestabil. Zu einem Histamin-Überschuss kommt es dann, wenn der  Körper zu viel davon produziert, wie in einer plötzlichen Stresssituation oder durch histaminreiche Nahrung: Rotwein, Bier, Käse, Nüsse, Fisch, Rohwurst, Tomaten. An einer „Fischvergiftung“ ist meist eine Histamin-Intoleranz schuld. Zu Symptomen kommt es, wenn der Histamin-Abbau durch das Enzym Diaminoxidase (DAO) nicht funktioniert, wenn also zu wenig oder inaktive DAO vorhanden ist. Aber, DAO ist nicht nur für den Abbau von Histamin, sondern auch für den anderer biogener Amine zuständig (z.B. Tyramin). Das heisst: Auch Speisen, die wenig bis kein Histamin dafür aber viele andere biogene Amine enthalten, können Beschwerden machen beziehungsweise verstärken.

    Eine Modekrankheit? – meist Angst- und Essstörung

    Geradezu Leitsymptom beim hohen Histaminspiegel ist der Kopfschmerz. Aber auch niedriger Blutdruck, Herzrhythmusstörungen, Hitzegefühl, ein flauer Magen, Schweissausbrüche nach dem Essen, auch Gesichtsröte, laufende Nase und Juckreiz nach Essen.

    Erschwerend auf die Diagnostik wirkt nicht nur die Vielfalt an Symptomen, sondern dass sich diese oft zeitverzögert, also Stunden nach dem Essen, zeigen.

    Histamin-Intoleranz scheint zu einer Modekrankheit geworden zu sein. Zu mir kommen immer mehr Patienten, die eine Histamin-Intoleranz vermuten, aber bei den meisten haben ihre Beschwerden andere Ursachen. Diese Störung ist meist nur ein Teil eines „Teufelkreislaufes“ mit einer Angststörung und damit einhergehenden Essstörung.

    Die Histaminintoleranz ist eine sog. Pseudoallergie und keine echte Allergie. Es ist keine immunologische Reaktion, es werden keine IgE oder Antikörper gebildet. Charakteristisch für Pseudoallergien ist eine Dosis-Wirkungskurve, die bei Allergien nicht beobachtet werden kann. So können geringe Mengen Histamin freisetzender Substanzen oder Histamin haltiger Lebensmittel toleriert werden, ohne dass Symptome auftreten. Mit steigender Menge an Histamin freisetzenden Substanzen oder aufgenommenem Histamin nimmt die Schwere der Symptome zu. Weil die Pseudoallergien nicht-immunologische Reaktionen sind, also nicht über spezifische Antikörper vermittelt werden, können sie bereits beim ersten Kontakt mit Histamin freisetzenden Substanzen bzw. stark Histamin haltigen Lebensmitteln auftreten. Eine Diagnose von Pseudoallergien kann daher auch nicht über das Messen von Antikörpern in Blutproben erfolgen.

    Kopfschmerz nach Wein

    Den meisten ist bekannt, dass Wein Kopfschmerzen verursachen kann. Insbesondere natürlich, wenn zuviel konsumiert wird. manchmal aber treten Kopfschmerzen und allergische Hautrötungen bereits schon bei kleinen Mengen auf. Auslöser dafür sind in erster Linie diese biogene Amine. Hinzu kommt, dass Alkohol die Wirkung von Histamin verstärkt. Wichtig zu wissen ist, dass Wein beileibe nicht der einzige Histamin Lieferant ist. Durch bakterielle Tätigkeit bei Reifungsvorgängen in Lebensmitteln entstehen teilweise beträchtliche Mengen an Histamin. Als Faustregel gilt: Frische Lebensmittel enthalten meistens wenig Histamin. Lange gelagerte Käsesorten, Essig, Sauerkraut, Salami und vor allem überlagerte Lebensmittel wie beispielsweise nicht mehr frischer Fisch (insbesondere Thunfisch und Makrelen) können beträchtliche Mengen Histamin aufweisen. Alkoholgenuss und Rauchen verstärken die Wirkung. Ein anderes biogenes Amin, Tyramin, kann in Kakao (Schokolade) in grösseren Mengen vorkommen und bei Migränepatienten Kopfschmerzen auslösen. Tyramin ist auch in gewissen Weinen in erhöhten Konzentrationen vorhanden. Weissweine haben in der Regel einen tieferen Histamin Gehalt als Rotweine. Wird bei der Weinherstellung und -lagerung unsauber gearbeitet, liegt der Histamin Gehalt höher, während frisch vergorene Weine kaum Histamin enthalten. heikel ist der biologische Säureabbau, den praktisch alle Rotweine durchlaufen. Dabei wird die sauer schmeckende Apfelsäure in die mildere Milchsäure umgewandelt. Probleme beim Säureabbau resultieren sofort in hohen Histamin Werten. Untersuchungen zeigten, dass insbesondere Rioja und Châteauneuf-du-Pape anfällig auf höhere Histaminwerte sind.

    Als Fazit gilt: Nicht immer ist der Wein schuld an Kopfschmerzen. Sind Sie empfindlich, sollten Sie gewisse Lebensmittel meiden oder nur in kleinen Mengen verzehren, insbesondere dann, wenn Sie gleichzeitig Alkohol konsumieren.

    Wie testen?

    Schwierig ist auch die Testung in der Praxis, da es wohl ein Testkit für das Enzym DAO gibt, aber für den Histamin-Nachweis das Blut sofort in Eiswasser und in eine Kühlzentrifuge gelangen muss.
    Es ist bisher auch überhaupt nicht nachgewiesen, dass die beschriebenen Symptome tatsächlich durch einen Mangel an dem Diaminoxidase-Enzym verursacht werden. Durch Messung des Enzyms im Blut kann man ausserdem nicht darauf schliessen, wie gut das Enzym im Darm wirklich arbeitet.
    Inzwischen kennt man zudem mindestens vier verschiedene Stoffwechselwege, über die Histamin abgebaut werden kann. Eine Schwäche in einem dieser Wege sollte also nicht dazu führen, dass man Histamin nicht mehr verträgt.

    (vielen Dank an Prof. Peter Schmid-Grendelmeier, Dermatologie, USZ – Ärztekongress Arosa, 2014)

    Auch hier – wie so oft bei Nahrungsmittelbedingten Krankheiten – zeigt nur ein Verzicht auf die vermuteten Nahrungsmittel und später das Testessen mit einzelnen dieser Esswaren, was genau schuld ist.
    Ich bitte die Patienten, einige Wochen lang genau aufzuschreiben, was sie essen und welche Beschwerden auftreten. Ich prüfe anschliessend, ob diese mit dem Histamin Gehalt in den Nahrungsmitteln korrelieren. Verträgt man Histamin nicht, sollten nach einer zweiwöchigen Histamin armen Diät die Symptome verschwinden und bei Wiedereinführung einer Histamin reichen Ernährung wieder auftreten.

    Bei über 95 Prozent der Patienten ist das aber nicht der Fall. Daraus lässt sich schliessen, dass sie keine Histamin-Intoleranz haben.

    Manche Experten raten – ähnlich wie bei Allergien – zu einem Provokationstest, bei dem man entweder Histamin oder Placebo-Kapseln schluckt und wartet, ob dadurch Symptome ausgelöst werden. Das Problem dabei ist aber, dass die üblicherweise verwendete Dosis von 75 mg Histamin auch bei vielen gesunden Probanden zu Beschwerden führt. Man empfiehlt stattdessen einen titrierten Provokationstest mit steigenden Dosen Histamin, um die individuell verträgliche Dosis zu ermitteln. Die kann aber auch bei einem Betroffenen selbst stark schwanken. So hemmen etwa bestimmte Medikamente oder Alkohol die Aktivität der Enzyme.

    Therapie

    Bei Histamin entscheidet die Menge über das „Gift“. Die nachhaltigste Therapie ist natürlich eine Diät (>>> hier eine genaue Anleitung).

    …und hier vom Unispital Zürich:

     Nach kurzer Zeit nimmt die Zahl der Histamin-Rezeptoren ab und es werden wieder grössere Mengen Histamin haltiger Speisen vertragen. Ob das allerdings auf biologische Effekte zurückzuführen ist oder sich die Patienten durch die ausführliche Ernährungsberatung besser fühlen, ist unklar. Die Psyche spielt dabei eine Rolle. Auch Stress im Beruf oder in der Partnerschaft verursachen manchmal solche Beschwerden.

    Wer auf seinen Käse und seine Schokolade nicht verzichten will, für den gibt es auch medikamentöse Hilfe. Gerade bei Patienten mit Durchfall haben sich H1-Rezeptorblocker bewährt (Dimetinden, Clemastin). Diese wirken so blitzartig, dass man sie eventuell auch zur Diagnose verwenden kann.

    Ein sehr guter Übersichtsartikel hat Brunello Wüthrich in der Dermatologie Praxis 2/2011 geschrieben: Hier zu lesen.

    Veröffentlicht am 15. Juni 2017 von Dr. med. Thomas Walser
    Letzte Aktualisierung:
    07. Mai 2024