Genuss und Schuldgefühle

“Ob gesund oder krank, habe ich mich immer willig von den Gelüsten leiten lassen, die sich in mir regten. Ich räume meinen Wünschen und Neigungen großen Einfluss ein. Ich liebe es nicht, Übel durch Übel zu heilen; ich verabscheue die Heilmittel, die beschwerlicher sind als die Krankheit. (…) Alles, was ich mit Unlust zu mir nehme, ist mir schädlich, und nichts ist mir schädlich, was ich mit Lust und Hunger genieße; nie ist mir Nachteil aus einem Beginnen erwachsen, das mir großes Vergnügen bereitete. Und so habe ich meinem Vergnügen gar grosszügig vor allen ärztlichen Ratschlüssen den Vortritt gegeben.”
(Michel de Montaigne, Essais: Von der Erfahrung, S. 861f.)

Was tut mir gut?!

Schrecklich, die moralsaure Vorstellung wie all unsere versauten Nahrungsmittel uns verseuchen und verpilzen, uns wurmstichig zernagen…
Ich plädiere hingegen zu fragen: “Was tut mir gut?” und nicht immer “Was kann mir schaden?”.
Wir sollten wieder lernen, freudvoll und schuldenfrei zu geniessen!

Soziale Kontrolle durch Gesundheit

Die Medizin ist aufs Negative fixiert, sie liebt Warnungen vor Gefahren. Wie andere Religionen hat die Medizin mittlerweile ein eigenes Moralsystem geschaffen: Rauchen, Weissbrot, Chips, Salz oder Fett essen, ein Stubenhocker sein, keine Kondome benutzen, Alkohol, Nikotin oder Haschisch konsumieren, Sonnetanken, keinen Motorradhelm tragen: All diese Dinge sind unmoralisch – der Preis solcher Sünden ist ein früher Tod. Die Folgen dieses Moralsystems sind Schuldgefühle. Und die erzeugen massiven, krankmachenden Stress, senken das Wohlbefinden und können sogar zu Depressionen führen.
Die Moral, die soziale Kontrolle, funktioniert heute nicht mehr über Sex, sondern über Gesundheit! Die Kontrolle funktioniert über den Körper-, Schlankheit-, Fitnesskult, über die Ernährung und die Leistungsfähigkeit. Seit Sparta gibt es eine Form von Gesundheitsfaschismus. Das gehört zum menschlichen Dasein. Der Kult von Reinheit, Stärke, Körper – bis hin zur Rassenreinheit im Nationalsozialismus (Siehe dazu auch der spannende Artikel über die neuen vielen Guidelines in der Medizin hier:  Guidelines: the new catechism of modern medicine? Levi M.; Netherl J Med 2012 (August); 70: 253-4: guidelines.pdf)

Gesundheitsbewegungen hatten immer etwas zutiefst Antiliberales. Umgekehrt hat der Genuss immer etwas Subversives, Ideentreibendes, Verdächtiges. Dadurch bekommt Rauchen heute langsam den ambivalenten Status von Pornografie: Etwas Abstossendes und Anziehendes zugleich.

In dieser ambivalenten Situation trennen sich auch die Glückssucher von den Unglücksvermeider, zwei völlig verschiedene Typen: Die einen stellen ihr Leben völlig auf Sicherheit ein (kein Rauch, gesundes Essen, keine AKW…) und die anderen suchen das Glück, den Exzess und sind bereit, Unglück (und frühen Tod und Krankheit durch Rauchen, etc.) zu riskieren!

Zur Bedeutung des Exzess in der Menschheitsgeschichte ein berauschender Beitrag aus der Republik: kurze-geschichte-des-lasters.pdf

Essen ist der neue Sex

Mittlerweile ist es üblich, dass sich auch die ganz Braven einmal pro Woche einen sogenannten Cheatday gönnen. So jedenfalls wird es unter dem entsprechenden Hashtag in den sozialen Medien propagiert. Die «Cheater», sprich Betrüger, gehen dann allerdings nicht in eine Bar und schleppen dort zwecks Geschlechtsverkehr ein Date ab. Nein, sie dürfen an jenem Tag bloss essen, was ihnen beliebt. Also nicht nur gesundes Zeug, sondern vielleicht auch etwas Schokolade oder gar eine Fertigpizza.
Klingt eigentlich sympathisch. Ist es aber nicht. Wer sich verpflegungsstechnisch entspannen will und auch mal Süsses und Fettiges zu sich nimmt, begeht offenbar nichts weniger als einen Betrug. Als wären wir unserem Essen moralisch verpflichtet und könnten Gemüse oder Chiasamen hintergehen. Die Vorstellung mag amüsieren. Doch sie offenbart, wie verkrampft, ja dogmatisch unser Verhältnis zur Nahrungsaufnahme geworden ist. Man isst nicht mehr vorzüglich oder miserabel, sondern richtig oder falsch. Es gibt gute und böse Lebensmittel. Wer gesund speist, lebt besser, länger, glücklicher.
Diese neue Moral hat voll aufs Volk übergegriffen: Die moderne Mutter sorgt sich nicht mehr, dass die Tochter an einer Party richtig küsst, sondern dass sie falsch isst. Das Essen (und andere Mediziner-Dauer-Themen, wie Bewegung, Rauchen,…) haben in unserer Gesellschaft den moralischen Stellenwert eingenommen, den Sex bis vor ein paar Jahrzehnten noch innegehabt hat! Gesunde Ernährung ist zum moralischen Imperativ geworden. Vegetarier, Veganer und Fruktarier basteln aus dem Inhalt ihres Kühlscharnks – oder besser: aus dem, was sich nicht darin findet – eine ganze Lebenshaltung. Und übrigens meist eine, mit der man sich moralisch besser fühlen kann, mit der man sich so schön vom dumben Rest der Menschheit abheben lässt. Gourmetsendungen im TV werden als Foodporn bezeichnet. Der Bioladen um die Ecke wird zum Glaubenstempel erkoren. Und wie bei jeder installierten Moral wird irgendwann vom Recht zum Widerstand Gebrauch gemacht und wird richtig cool: Im Internet gehört das Food-Selfie mittlerweile zum guten Ton. Models beissen gierig in eine Pizza oder schlecken lüstern eine Glace. Schaut alle her, wie verwegen ich bin! Junk-Food als Verführung in der Welt der oralen Enthaltsamkeit…(teils zitiert aus der Sonntagszeitung vom 20.01.2019 und Nicole Althaus in “Essen ist der neue Sex” aus der NZZ am Sonntag vom 22.6.14 – Danke!)

Hauswartsyndrom

Die WHO listet 3350 Grenzwerte für Pestitzidrückstände in Lebensmittel auf. Das stumpft ohnehin ab und erhöht den Widerwillen gegen gesundheitsförderliche Ratschläge. Risiken breiten sich seit etwa dreissig Jahren in der medizinischen Literatur in den Medien und im Bewusstsein der Menschen geradezu epidemisch aus. Die meisten Menschen haben grosse Angst vor dem Sterben. Deshalb sind sie offen für vieles, was Gefahren und Risiken vermeintlich minimiert. Dies anderen Menschen ständig vorzuhalten, nenne ich “Hauswartsyndrom”: Man macht den anderen durch (unhaltbare) Massregelungen schuldig und dies gibt Macht. Über Schuldgefühle kann man Menschen führen. Wünschenswert wäre aber, Menschen über Achtung und Respekt vor anderen Menschen, vor Tieren, der Natur, vor Gegenständen zu führen. Was voraussetzt, dass man sich selber achtet. Wir müssen wieder lernen, Verantwortung für uns selber zu übernehmen. Verantworten heisst sich selber antworten. Indem ich mir selber antworte, entscheide ich, ob ich etwas als gesundheitsschädlich erachte oder nicht. Konkret: Wenn ich abends zu viel getrunken habe, erbringe ich anderntags nicht die gleiche Leistung; vielleicht bin ich gereizt. Nehme ich das bewusst wahr, kann ich gelassen reagieren, ohne quälende Schuldgefühle: Du hast dir gestern geschadet, das nächste Mal passt du besser auf (es kann aber auch das nächste Mal schief laufen).

Selbstbeobachtung

Wie kann man diese Selbstbeobachtung fördern? Indem man fünf Minuten pro Tag dasitzt und nichts macht – nicht Radio hört, nicht fernsieht, nicht im Internet surft, nicht Zeitung liest. Nur dasitzt. Und sich beobachtet und Fragen stellt: Willst du auf diese Weise alt werden, so wie du heute lebst? Mit welchen Gefühlen bist du heute aufgestanden? Was hast du für eine Beziehung zu deiner Partnerin, deinem Partner? Gestern hast du zuviel getrunken – wie stehst du heute dazu? Es braucht sehr, sehr wenig, um mit sich selber Kontakt aufzunehmen. Eine andere Möglichkeit, Distanz zu sich selber zu schaffen, ist ein Tagebuch führen. Oder abends vor dem Zubettgehen eine Zeichnung von sich selber machen. Was für Farben nehme ich? Was bedeuten diese Farben? Oder man kann den Tag auf ein Tonband sprechen.
Betrachten Sie die Ereignisse aus einer anderen Perspektive, entwickeln Sie eine distanziertere, umfassendere Sicht. Abgrenzung verhindert Wachstum. Oder mit Albert Einstein ausgedrückt: “Der Horizont vieler Menschen ist ein Kreis mit dem Radius Null – und das nennen sie dann ihren Standpunkt.”
Solche Methoden kann jede Person anwenden; sie verlangen weder psychologisches Wissen noch eine Therapie.

Genuss vs. Selbstkontrolle

Es herrscht noch immer die Auffassung, dass primär Selbstkontrolle helfe, ein zufriedenes und erfolgreiches Leben zu führen, indem langfristige Ziele über kurzfristiges Vergnügen gestellt werden. Doch es ist Zeit umzudenken, zeigen neuere Studien.
Selbstkontrolle ist zwar durchaus wichtig für ein Leben, das als sinnhaft und erfolgreich empfundenen wird. Aber die Fähigkeit, lustvolle Aktivitäten zu geniessen, trägt mindestens ebenso viel zur Lebenszufriedenheit bei.
Dabei stehen beide Fähigkeiten nicht im Widerspruch zueinander. Für ein zufriedenes und erfolgreiches Leben sind beide wichtig. Es gilt, im Alltag – einmal mehr – die richtige Balance zu finden.
“Selbst-Kontrolle” kann so neu als “Empathie zu sich selbst” gesehen werden – und schliesst so den Genuss sicher nicht aus.
Die Studien zeigen: Menschen, die sich dem Genuss ungeteilt hingeben können, erleben nicht nur kurzfristig mehr Wohlbefinden, sondern weisen generell eine höhere Lebenszufriedenheit auf. Sie leiden zudem weniger an Depressions- und Angstsymptomen.
Dabei zeigte sich aber, dass man sich in Genuss- oder Entspannungsmomenten nicht gedanklich ablenken lassen darf, um davon zu profitieren. Das Grübeln über Aktivitäten oder Aufgaben, die man stattdessen erledigen sollte, untergräbt das unmittelbare Bedürfnis, sich zu entspannen.
Sich einfach häufiger einen Abend auf dem Sofa, ein gutes Essen oder ein Bier mit Freunden zu gönnen, führt also nicht automatisch zu mehr Zufriedenheit, so das Fazit der Forscherinnen. Man darf gleichzeitig nicht abgelenkt sein vom Genuss. Und das sei offenbar «nicht ganz so leicht».
(Katharina Bernecker, Uni Zürich & Daniela Becker, Leibniz-Institut für Wissensmedien, Germany: The ability to pursue hedonic goals and its consequences for well-being)

Willenskraft? Selbstkontrolle? Nein: Gewohnheiten!

Wir überschätzen uns und unsere Willenskraft und unsere Selbstkontrolle. Wir glauben, wenn wir uns nur am Riemen reissen, könnten wir jederzeit unser Verhalten steuern und unsere Ziele erreichen. Das stimmt aber leider nicht.

Wann soll man skeptisch werden? die “Guru-Medizin”.

Lassen Sie sich nicht den Genuss am Leben vergällen und madig machen, z.B. von sog. Therapeuten, die ein Bild vom Menschen als Müllhalde haben, der entgiftet werden muss (Darmspülungen, Entgiftung, Ausleitung, Dauerbrause, Detoxikationen…), die ein Horrorszenario von Umweltgiften, Pilzen und Mikroorganismen ausmachen – “madig” eben…
Es scheint auch viel “Galle” da zu sein, eine aggressive Art, sich von sämtlichen “Nichtgläubigen” abzugrenzen. Schulmediziner grenzen z.B. Homöopathen aus – und umgekehrt, Impfverfechter Impfgegner,…
Skeptisch soll man als mündiger Mensch werden, wenn also von schrecklichen Menschenbildern ausgegangen wird, wenn nur auf die kranken Seiten fokussiert wird und nicht auch auf die gesunden, wenn “gallig” abgegrenzt wird – und auch wenn teure Behandlungen und Apparate als das Einzigrichtige verkauft wird (Stichwort “Guru-Medizin”). Gegen Elektrosmog und Wasseradern benötigt man keine tausendfränkigen Abschirmungen – man findet im Internet auch Bastelanleitungen für wenige Fränkli. Das Bett verstellen oder den Radiowecker, das Freihandtelefon, den Router und Repeater ausziehen und das Smartphone nachts in den Flugmodus setzen, kann schon reichen. Diätpläne müssen nicht teuer erkauft werden (ernaehrung/). Auch Fitness nicht (jogging/). Anti-Aging auch nicht (anti-aging/). Amalgam soll nicht auf ein Mal rausgerissen werden: max. zwei Plomben im Jahr sind für unseren Körper noch tragbar. Nicht gegen alles und jedes impfen – aber auch nicht nichts: individuell entscheiden (www.impfo.ch).

Was ist dann gesund?!

Man darf ja gar nicht so laut verkünden, dass Gesundheit eigentlich sehr einfach zu erlangen ist (Ärzte würden ja arbeitslos…):
Lebe massvoll, lustvoll, natürlich und mit viel Bewegung!
Der Geist soll in eine glückliche Stimmung kommen. dafür ist Warmherzigkeit der Schlüsselfaktor. Wenn Sie ein gutes Herz haben, einen offenen Geist und sich und andere Menschen achten, werden Sie gesund. Betrachten Sie die Dinge aus einer anderen Perspektive, entwickeln Sie eine distanzierte, umfassendere Sicht.
Wer sich zu sehr mit dem eigenen Ich beschäftigt, kreist um sich selbst, und das schafft vor allem Beklemmungen. Man sollte sich für etwas anderes interessieren als nur für die eigene Haut und Haare!
Auf meiner Seite über Salutogenese habe ich viel über Dinge geschrieben, die Ihre Haltung zu Ihrer Gesundheit verändern können – und über die Resilienz in Krisenzeiten.
Die “Entgiftung und Entschlackung” jeder unserer Körperzelle mittels der wunderbaren Autophagie anregen: ganz einfach mit dem Intervallfasten! (walserblog.ch/2019/01/12/detox-intervallfasten/)

Schuldfreier Genuss

Auch in der Medizin gibt es zum Glück Gegengewichte: z.B. David Warburton, Professor für Psychopharmakologie im südenglischen Reading begann ein weltweites Netzwerk mit Leuten zu spinnen, welche die heilsame Wirkung von Dingen ergründen, “die uns Spass machen”. Heute sind fünfzig Freuden- und Genussforscher aus 13 Ländern miteinander verbündet, von Soziologinnen bis Medizinern. Ihr programmatischer Name: Arise (Associates for Research into the Science of Enjoyment ). Sie konnten in zahlreichen Arbeiten zeigen, dass so “schreckliche” Dinge, wie Schokolade, Kaffee, Alkohol, … bei schuldfreiem Genuss mehr heilen als schaden.
Es wurde sogar gezeigt, dass ein Stück Schokoladenkuchen (oder was man sonst sehr gern mag) zum Frühstück zu besseren Abnehmen (mehr und andauernd) führt, als bereits schon ein genussfeindliches Frühstück (Steroids, 77 (2012) 323-331)!

Vor beinahe 50 Jahren stellten Psychologen die These auf, dass die Menschheit einen Hang zum Guten hat: Auch unsere menschliche Sprache neigt zum Guten. Sie enthält mehr positive Wörter als negative. Dies haben jetzt amerikanische Mathematiker bestätigt («Pnas», online). Dazu haben sie einen immensen Datensatz mit mehreren Milliarden Wörtern ausgewertet. Als Quelle dienten Filmuntertitel, Songtexte, Romane, Zeitungsartikel und andere Dokumente in zehn verschiedenen Sprachen. In allen Quelltypen waren positiv besetzte Wörter in der Überzahl. Fazit: Wir reden lieber über die Sonnenseiten des Lebens.

www.mutmacherei.net: Wollen Sie endlich mal was anderes hören als Bankenrettung, Kernschmelze und Wirtschaftslobby? Die Mutmacherei bringt Ihnen wirkliche good news, die Sie staunen lassen!

…und der sinnvolle “The Happy Broadcast”: www.maurogatti.com/the-happy-broadcast

Hier muss auch ein Medienprojekt erwähnt werden, welches – leider eine Seltenheit in der Medienszene – speziell zur Verbreitung positiver Nachrichten und Geschichten des Gelingens erschaffen wurde: www.visionews.net!

Schuldfrei und genussreich Sonnetanken

Wer Sonne meidet, stirbt früher!
Zu diesem Schluss kommt eine Langzeitstudie aus Schweden: Zu strenge Regeln im Umgang mit der Sonne können der Gesundheit mehr schaden als nutzen. Die Behörden haben in der Gesellschaft die Vorstellung gefördert, dass die Sonne ausschliesslich gefährlich sei. «Dieses Bild muss sich verändern.», so die Studienleiter.
So hatten Studienteilnehmerinnen, welche die Sonne mieden, ein doppelt so hohes Risiko an Herz- und Kreislaufkrankheiten zu sterben, als extreme Sonnenanbeterinnen. Ihre Lebenserwartung sank im Vergleich um bis zwei Jahre. Diese Resultate überzeugen auch den Hautarzt Mark Anliker aus Winterthur. «Das Ergebnis ist eindeutig und stimmt auf jeden Fall. Wer mehr Sonne tankt, lebt länger.» Was genau für die bessere Lebenserwartung der Sonnenanbeterinnen verantwortlich ist, lässt die Studie offen. Die Forscher weisen auf einen möglichen Zusammenhang mit der verstärkten Produktion von Vitamin D hin. Für Anliker ist ein gesamthaft gesünderer Lebensstil wahrscheinlicher: «Wer viel draussen an der Sonne ist, ist häufig auch körperlich aktiv. Hinzu kommt die frische Luft und das psychische Wohlbefinden.» Mehrere Studien belegen, dass die Sonne gegen Depression hilft. «Besonders morgens und abends. Das helle Sonnenlicht setzt über die Netzhaut Glücksgefühle im Gehirn frei und wirkt positiv aufs Gemüt.»
Ein Freipass für stundenlanges Sonnenbaden ist die Studie aber nicht. «Es geht darum, täglich etwa eine halbe Stunde Sonne an Sie hilft bei Ekzemen, Schuppenflechten, Akne und Allergien.»

Weiterlesen:

​Selbstoptimierung

Die Philosophin Ariadne von Schirach beschreibt in Ihrem Buch «Du sollst nicht funktionieren» die Folgen dieses Leistungsdruckes der Selbstoptimierung als fatal:
“Jenseits von Burn-Out, Einsamkeit und Angst ist doch das Schlimmste an der unablässigen Selbstoptimierung dieser überall bemerkbare Verlust von Lebensfreude. Wir verlernen, uns gehen zu lassen. Die Fähigkeit, Hingabe, Lust und Rausch zu erleben und zu geniessen, kommt uns durch diese dauernde Selbstbeobachtung und -kontrolle abhanden. Doch das ist nicht alles.
Die Philosophie rät seit Jahrtausenden, der Mensch solle sich um seine Seele kümmern. Das bedeutet, eine Beziehung zu seinem Inneren zu haben – zu seinen Gefühlen, Träumen und Werten. Zu seiner eigenen Lebendigkeit. Wenn diese Beziehung verloren geht, verlieren wir auch den Sinn unseres Lebens.
Selbstoptimierung als eine Form von Kontrolle suggeriert nun Sicherheit. Auch angesichts der umfassenden Beschleunigung versuchen wir, an etwas festzuhalten: an unserer Jugend oder an unserer Leistungsfähigkeit.
Zugleich versuchen wir uns immer wieder auf allen möglichen Märkten zu beweisen – vom Dating- bis zum Arbeitsmarkt.
Dadurch wird der Selbstwert zum Marktwert. Dabei vergisst man leicht, dass jeder Mensch, genau so wie jedes Stück Natur und jedes Tier, an sich wertvoll ist. Dieses Wissen müssen wir uns zurückerobern.
Also zurück zur Authentizität?
Da muss man differenzieren: Das Authentische des Menschen ist nicht nur sein Inneres, sondern eben Inneres und Äusseres zusammen. Diese puritanische Haltung, wir müssten uns nur auf das Innere konzentrieren und der verlogenen äusseren Welt abschwören, bringt uns auch nicht weiter.
 Was bringt uns denn weiter? Wäre ein Mittelmass aus Selbstoptimierung und Lebenskunst optimal?
Ich glaube, der entscheidende Gedanke hinter dieser Frage betrifft nicht nur das Mass, sondern auch die Motivation. Es ist sinnvoller, die Energie, die wir in die Optimierung unseres Selbst stecken, dafür zu nutzen, das Bild, das wir abgeben möchten, mit unserer inneren Wirklichkeit in Korrespondenz zu bringen.
In einer Zeit, in der die Welt so sinnlos und brutal wirkt, liegt es an jedem Einzelnen, Widerstand gegen Konkurrenz, Kälte und Gier zu leisten. Das beginnt mit einem nutzlosen Lächeln, das wir dem anderen schenken, anstatt ihn oder sie einfach nur abzuchecken. Es ist an der Zeit, wieder Lieben zu lernen und das Leben zu wagen, anstatt es nur zu verwalten.”

Zu Tantra als Grundhaltung mit Annehmen der Lust und des Körpers als “Tempel der Seele” – im Gegensatz zur etwas rigid-streng-moralischen Grundhaltung in der westlichen Medizin: http://walserblog.ch/2016/12/14/tantra/

“Fuck it, bitch. Stay fat!”
Dieses Buch von Samantha Irby “We never meet in real life” war mal dringend nötig. Das Thema ist nicht neu – ein Rant gegen Diäten – aber wie sie’s aufschreibt lässt den Leser auf diese tiefe, behäbige Weise lachen, die Alltagsweisheit signalisiert. Kostprobe:
“Do you really need another article about how important it is to eat a big breakfast full of healthy fats and whole grains to curb afternoon snacking? NO, YOU DO NOT. You need bitches to write about how comfortable maternity jeans are for women who aren’t really pregnant. And sexy ways to remove a bra that has four hooks. I’m always amused when they encourage you to eat “instead” foods, like eating an apple when you really want to rub a bacon cheese­burger all over your boobs is a fair substitute.” 

Diätlos glücklich – ein Plädoyer für den Genuss!

Zur Bedeutung des Exzess in der Menschheitsgeschichte ein berauschender Beitrag aus der Republik: kurze-geschichte-des-lasters.pdf

Letzte Aktualisierung:
03. Juni 2022

Hausarztmedizin

Die Hausarztmedizin löst 90% aller medizinischen Probleme

und dies mit einfachen (und meist preiswerten) Mitteln >>> siehe einen Einblick dazu auf dieser Website!

Eine sozialmedizinische Faustregel lautet so: Von 1000 medizinischen Problemen können 900 von den Betroffenen gelöst werden. Von den verbliebenen 100 Problemen, die einen Menschen ins Gesundheitswesen führen, können 90 bei der Allgemeinmediziner*in geklärt werden. Von den verbliebenen zehn müssen neun zur Fachärzt*in, und eine Patient*in muss ins Krankenhaus.

Hausarztmedizin ist aber noch viel mehr:

Sie fördert Gesundheit und Wohlbefinden mit einer salutogenetischen Vorgehensweise. Sie fördert das Kohärenzgefühl der Patient*in indem sie seine Symptome und Krankheiten für ihn verständlich macht, auch sinnhaft und vor allem bewältigt bar. Sie fördert seine Ressourcen und seine Lebensqualität.

Hausarztmedizin arbeitet auf dem Prinzip des »Nächsten Effektiven Interventionsniveau« (NEIN). Daran ist nur der Name kompliziert. Es bedeutet: nicht mit dem Mercedes fahren, wenn das Ziel um die Ecke auch zu Fuss zu erreichen ist. Noch konkreter: Nichts der Ärzt*in überlassen, was jede Oma besser weiss! Nichts der Ärzt*in überlassen, was die Gemeindekrankenschwester besser regelt. Nichts der Fachärzt*in überlassen, was die Hausärzt*in besser überblickt. Nichts dem Krankenhaus überlassen, was die Fachärzt*in um die Ecke auch kann.

In Schlagworten könnte dieses “NEIN-Programm” so lauten:

  • Mehr Mut, die eigene Gesundheit in die Hand zu nehmen – und:
    ein öffentliches Impfprogramm gegen medizinische Propaganda.
  • Mehr Vertrauen in das primärmedizinische Team aus Hausärzt*innen, Krankenschwestern in der Hauskrankenpflege und den Pflegeheimen, Physiotherapeut*innen und Apotheker*innen.
  • Mehr Geld für die Kranken, weniger für die Gesunden.
  • Mehr Bescheidenheit bei den Ärzt*innen.

Hausarztmedizin ist kostengünstiger!

Eine Flut von Daten belegt, dass Gesundheitssysteme mit einer starken Hausarztmedizin deutlich kostengünstiger sind. Bei tendenziell sogar besserer Lebensqualität – nicht nur insgesamt betrachtet, sondern auch auf häufige Erkrankungen fokussiert. Studien zeigen zum Beispiel, dass Diabetiker*innen, die von der Hausärzt*in betreut werden, länger leben. Dass es nach einem Herzinfarkt wichtig ist, neben der Kardiolog*in auch eine Hausärzt*in zu haben. Oder dass von einer Hausärzt*in betreute Kreuzschmerzpatien*in genauso schnell genesen, aber weit weniger Untersuchungen erfahren dürfen (müssen).

Beziehungsmedizin

Hausarztmedizin ist auch – wie übrigens Psychotherapie und schlussendlich wohl jede erfolgreiche Therapie – Hausarztmedizin ist eine Beziehungsmedizin. Die Beziehung zwischen Ärzt*in/Therapeut*in und Patient*in/Klient*in ist das Medium der Heilung. Und die Voraussetzung für eine solche therapeutische Beziehung sind auf der Seite der Ärzt*in: uneingeschränkte Aufmerksamkeit, bedingungsloses Akzeptieren, echtes Engagement, empathisches Verständnis (siehe Check-Up Ihrer Ärzt*in).
Und auf der Seite der Patient*in: die Bereitschaft, Verantwortung (für die Gestaltung ihres Lebens) zu übernehmen. “Verantwortlich sein” bedeutet “Urheber*in sein”, das heisst, jeder von uns ist die Urheber*in ihres eigenen Lebensplans. Wir haben die Freiheit, alles ausser unfrei zu sein: Wir sind, wie Sartre sagt, zur Freiheit verdammt.

Existentielle, letzte Fragen

Die Hausärzt*in ist durch ihre Beziehung “durchs ganze Leben” der Patient*in in der Lage die “letzten, existentiellen Fragen” anzusprechen. Ich glaube, dass das primäre Thema bei psychischen Krankheiten immer solche Existenzängste sind (wie die Angst vor der Freiheit, unser Leben nach unserem Willen, eigenverantwortlich zu gestalten) – und nicht, wie oft behauptet wird, unterdrückte Triebe oder unbewältigte Tragödien im Leben der Einzelnen. Auch bei (chronischen) somatischen Krankheiten spielen sie natürlich eine wesentliche Rolle.
Es sind dies vier existentielle Grundtatsachen mit denen die Ärzt*in/Therapeut*in und die Patient*in umgehen muss:

  • Neben der oben beschriebenen Freiheit, das Leben nach unserem eigenen Willen, also auch eigenverantwortlich zu gestalten,
  • Die Unausweichlichkeit des Todes für jede von uns und für die, die wir lieben;
  • Unsere letztendliche Einsamkeit und Isolation (will heissen: jede/r lebt in seiner eigenen Welt und hat seine eigene Sprache – und ganz bis zum Letzten werden wir uns – trotz symbiotischer Wünsche – nie verstehen!) und schliesslich
  • Das Fehlen eines erkennbaren Lebenssinns.

Prozess

Ein wirklich nützliches Instrument der Medizin/Therapie ist die Konzentration auf den “Prozess“. Wobei Prozess im Gegensatz zu Inhalt zu verstehen ist. In einer Unterhaltung besteht der Inhalt aus den real benutzen Worten, den real diskutierten Themen; der Prozess hingegen bezieht sich auf die Art und Weise, wie der Inhalt ausgedrückt wird, wie wirklich gelebt wird. Die Hausarztmedizin konzentriert sich auch auf diesen Prozess, auf diese Begleitung (die meist Jahre und Jahrzehnte dauert) und die einen umfassenden Blick auf alle Lebensumstände der Patient*in zulässt, ja bedingt (Hausbesuche!) und diese obigen Existenzängste berührt. Es ist eine Art Muster oder Raster, welches jedes Individuum mit seiner Umgebung bildet und immer mit unscharfem Rand daher kommt .
Damit sind wir bei den hausärztlichen Zwischentönen.

Der dritte Bereich – die Zwischentöne

Ein Hausarzt/Hausärztin muss vor allem viel Neugier haben und mit Unsicherheit leben können. Im 2009 fand der europäische WONCA-Kongress der Hausärzt*innen in Basel statt – mit dem vielsagenden Thema “The Fascination of Complexity – Dealing with Individuals in a Field of Uncertainty”!
Sie muss mit der Fuzzylogic vertraut sein, mit “Sowohl-als-auch” (englisch “as-well-as”): Sie kennt zwischen den Begriffen “gesund” und “krank” oder zwischen “wahr” und “falsch” einen dritten Bereich, eine grosse Grauzone (sehr viel mehr als “fifty shades of grey”! …und natürlich mit allen Farben!) – einen grossen Zwischenbereich des Menschen und der Medizin, wo Grenzwerte, Diagnosen und sogenannte “Guidelines” recht “fuzzy“, also unscharf daherkommen. Diagnosen sind in der Hausarztpraxis häufiger nicht zu stellen und Grenzwerte sind individuell variierend (siehe hier die Diskussion über den BMI oder über den hohen Blutdruck!). Leitlinien werden meist von Spezialiste*innen aufgestellt und finden in der Hausarztmedizin-Grauzone nur unscharfe Verwendung (Siehe dazu auch der spannende Artikel über die Guidelines hier:  Guidelines: the new catechism of modern medicine? Levi M.; Netherl J Med 2012 (August); 70: 253-4: guidelines.pdf)

Eine Hausärzt*in kann keine Schwarz-Weiss-Maler*in sein. Auch hier hebt sie sich stark von Spezialist*innen in der Medizin ab, die viel Sicherheit benötigen, meist mehr Ängste vor Unsicherheit und Unschärfe haben und dadurch eine eingeschränkte und abgegrenzte Sicht auf den Menschen erhalten.

Umgehen mit dem “Schillernden”

Wer «reif» ist, kann Realitäten aushalten, die sich mit den Begriffen seiner Erfahrungswelt nicht fassen lassen. Die Klimakrise  ist zum Beispiel so ein «Hybrid» (nach dem Wissenschaftsphilosophen Bruno Latour): etwas, was sich mit Gegensätzen nicht fassen lässt. Die Klimakrise ist nicht Natur oder Kultur, sie ist beides zugleich. Wer sich an eindeutigen Kategorien festhalten will, kommt mit solchen Phänomenen nicht klar. Klimaleugnerinnen als Beispiel gleichen Homophoben und Rassisten: Sie hassen das Schillernde, das Mehrdeutige, das Sowohl-als-Auch, weil sie es nicht fassen können. Die Realität in ihrer Mehrdeutigkeit ist für sie eine Zumutung. Klimaleugner, sagt der Philosoph und Literaturwissenschaftler Timothy Morton, leugneten die Klimakrise, weil sie nicht in ihr Weltbild passe.
Schülerinnen müssen lernen, das auszuhalten.
Was lehrt besser, Mehrdeutigkeit auszuhalten, als Poesie – jede Kunst? Kunst ist nie eindeutig.

Man könnte auch sagen, dass das Kerngeschäft der Hausärzt*in das Denken ist, das schillernde, das salutogenetische (auf die Ressourcen ausgerichtete), aber auch das pathogenetische, das existentielle, aber auch das alltägliche und das prozessorientierte.

Literatur dazu für angehende Hausärzt*innen und ihre Patient*innen (Achtung: Kann Ihr Leben verändern!):
Irvin D. Yalom “Existentielle Psychotherapie” (wunderbares Lehrbuch über “die letzten Fragen”: Freiheit, Tod, Lebenssinn, Isolation) und “Die Liebe und ihr Henker” (zehn Patientengeschichten) – auch in Kurzform im “Panamahut”.
Irvin D. Yalom ist wunderbar lesbar und es wirkt nachhaltig! Es gibt auch einen sehr schönen Film über ihn (2014):  „Yalom`s Cure – eine Anleitung zum Glücklichsein“ von Sabine Gisiger!

Hier noch die WONCA-Definition der Hausarztmedizin:
www.dr-walser.ch/hausarztmedizin.pdf

Warum eine Hausärzt*in, die Sie schon lange kennt und unter vielem anderen, “Notfälle” gut einordnen kann, Gold wert ist, zeigt folgende wahre Geschichte:
Sie hörte nicht mehr und ihm war schwindlig – deshalb suchte eine 89-Jährige das Spital auf. Die Ärzt*innen bemerkten den mit 170/100 (mm Quecksilber) erhöhten Blutdruck und einen hängenden Mundwinkel bei der Patient*in. Deren Beteuerung, ihr Mund sei schon immer leicht schief gewesen, half nichts: Mit Verdacht auf Schlaganfall wurde sie notfallmässig in den Computertomographen geschoben.
Der Befund: Ohrschmalz-Pfropfen in beiden Gehörgängen. (Therapeutische Umschau, 65, S.707)

Hausärzte schlagen Spezialärzte

In den USA wurde nach Korrekturen für Unterschiede in den sozioökonomischen und gesundheitsrelevanten Faktoren gefunden: Eine Zunahme der Hausärztezahl um 1 auf 10 000 Einwohner ist mit einer verlängerten, lokalen Lebenserwartung von gut 51 Tagen assoziiert. Die gleiche Zunahme an Spezialärzten verlängert sie um nur 19 Tage. (JAMA Intern Med 2019, doi:10.1001/jamainternmed.2018.7624)

…und Dr. Google gegen den Hausarzt…

“das sage ich” sind zum Beispiel Sie:


Grafik aus der Süddeutschen Zeitung (danke!)

Bedenken Sie immer, dass “Wissen” durch Informationsaneignung in der Medizin meist in die Irre – und erst “Erkenntnis” zum Ziel führt. Die Suche zur Erkenntnis geht nach innen: “Wer bin ich?”. Dies ist viel essentieller und ganzheitlicher als “Was habe ich (für eine Krankheit)?”. Deshalb ist auch Wikipedia und Google bei medizinischen Fragen häufig sogar schädlich, da die Erkenntnis keine Sache ist, die sich übertragen lässt. Man muss in sie hineinwachsen, sie erleben. Es ist wie mit der Liebe: Solange Sie sie nicht selbst entdecken und leben, werden Sie auch nie wissen, worum es sich handelt (auch nicht aus tausend Liebesromanen).

Deshalb sagt die wunderbar klar denkende und mutige Wissenschaftlerin Mai Thi Nguyen-Kim auch: “Je mehr man googeln tut, desto mehr muss man wissen!“.

Jeder Schritt ins Gesundheitswesen kann auch gefährlich sein

(DIE ZEIT, 15.02.2007 Nr. 08)

Durchschnittlich geht jeder Norweger dreimal im Jahr zum Arzt, mehr als 16-mal jeder Deutsche. Dabei werden die Bundesbürger aber nicht gesünder. Der Norweger entfernt sich eben die Zecke selbst, weil er nicht durch wohlmeinende Ratgeber verunsichert wird und hinter jedem Tier eine tödliche Krankheit befürchtet. Er vertraut darauf, dass der plötzliche Hörverlust nach ein paar Tagen Pause wieder besser ist, und wenn nicht: Eine unmittelbare Behandlung hätte wahrscheinlich auch nicht geholfen. Für die Krankheit »Hörsturz« gibt es im Norwegischen gar kein Wort – also auch keine Besorgnis. Gestresste Politiker gönnen sich einfach ein freies Wochenende.

Jeder Schritt ins Gesundheitswesen kann heilsam sein, aber auch gefährlich. Nach der Bestimmung des Cholesterinwertes ist jeder Bissen in einen fettreichen Käse ein Genuss mit Risiken. Nach dem ersten PSA-Wert bei der Prostatakrebs-Vorsorge startet möglicherweise eine lange Odyssee mit regelmässigen Kontrollen, die mit einer Operation enden, die nicht unbedingt das Leben verlängern, dafür aber weniger lustreich gestalten kann. Jedes unnötige Röntgenbild – und auch hier sind die Deutschen Weltmeister – erklärt möglicherweise den Rückenschmerz als Bandscheibenvorfall, auch wenn dieser bisher kaum Beschwerden machte und in ein paar Monaten nicht mehr nachweisbar gewesen wäre.

Früherkennungsuntersuchungen können den Krebstod verhindern, bei einigen. Aber warum verschweigen die meisten Broschüren zur Mammografie, dass auch Diagnosen gestellt werden, ohne dass die Brust erkrankt ist? Oder warum verschweigen die Frauenärzte, dass Zellveränderungen am Muttermundhals gefunden werden, die nach einem halben Jahr von selbst wieder verschwunden wären? Solche werden bei jährlichen Untersuchungen häufig entdeckt und behandelt: unnötig. Alle drei Jahre werden norwegische Frauen zur Cervixzytologie, zum Abstrich zur Krebsvorsorge, eingeladen – und wenn die Befunde mehr als zweimal negativ waren, nur noch alle fünf Jahre. Finnische Frauen haben daher nur acht solcher Untersuchungen im Leben und im europäischen Vergleich die besten Ergebnisse. Deutsche Frauen leiden im europäischen Vergleich trotz (und zum Teil auch wegen) intensiver Untersuchungen häufiger an Gebärmutterhalskrebs und sterben häufiger daran.

In Norwegen verschreiben die Schulkrankenschwester und der Hausarzt die Antibabypille, auf einem Rezept, das zwei Jahre gültig ist. Deutsche Mädchen müssen sich jedes Quartal zum Arzt begeben, damit sie sich gleich daran gewöhnen, dass nur der regelmässige Gang zum Arzt die eigene Gesundheit sichert. Sie bezahlen für einen Arztbesuch ohne medizinische Berechtigung.

Die norwegische Medizin beschreibt den Körper auch nicht kreativer als die deutsche, aber es findet eine lebhaftere Debatte über eine moderne Medizin statt. Eine Gruppe norwegischer Allgemeinärzte organisierte vor einigen Jahren internationalen Widerstand gegen die Empfehlungen von Kardiologen, rigorose Blutdruckgrenzen zu definieren, die fast alle Menschen über siebzig Jahre zu Patienten gemacht hätten. Unterstützt durch ein kluges Marketing der Pharmaindustrie, sollten immer mehr Menschen immer teurere Blutdruckmedikamente schlucken – »zur Behandlung der Blutdruckkrankheit«. Dabei ist längst bekannt, dass diese Behandlung nur ein Lotterielos anbietet. Wer der eine unter den mindestens anderen fünfzig ist, der im nächsten Jahr dank der Behandlung vom Schlaganfall verschont wird, bleibt leider ungewiss. Die norwegischen Allgemeinärzte argumentierten bereits vor vielen Jahren für die Berechnung eines Gesamtrisikos und für die Einbeziehung des Patienten in die Entscheidung, ob das Erkrankungsrisiko nicht genauso gut gesenkt werden kann, wenn er künftig keine Zigaretten mehr kauft.

Wann begreifen die Ärzte, dass sie mit ihren Kassandrarufen mehr Angst als Vertrauen schaffen? Ärzte sollten sehr gute Gründe haben, bevor sie aus einem Menschen eine Risikoperson machen. Ein Arzt, der es unterlässt, ein Röntgenbild zu veranlassen, auf dem der Lungenkrebs noch rechtzeitig hätte entdeckt werden können, wird schnell an den Pranger gestellt. Doch wann wird der erste Arzt angeklagt, der zu allen Zeiten, »um auch nichts zu übersehen«, Befunde seiner Patienten sammelt, die diesen Krankheiten verschaffen, um die sie nicht gebeten haben: einen Prostatakrebs, der womöglich auch ohne Therapie sein Leben nicht verkürzt; einen Bandscheibenvorfall, der ab sofort die Erklärung für alle Rückenschmerzen ist?

Im deutschen Gesundheitswesen fehlt die fachliche Instanz, die gesunde Menschen vor den gefährlichen Risiken und Nebenwirkungen des Gesundheitswesens bewahrt und den kranken Menschen den einfachsten Weg zur Besserung zeigt. Der entsprechend ausgebildete Hausarzt oder motivierte Apotheker könnte diese Funktion übernehmen. Die meisten Diagnosen, auch die beruhigenden, lassen sich durch einen persönlichen Dialog zwischen Arzt und Patient und eventuell eine symptomorientierte Untersuchung abklären.

Stattdessen sind die Menschen dieses Landes einer ständigen Propaganda ausgesetzt, die an allen Ecken potenzielle Risiken ausmacht und meist auch die medizinische Lösung parat hat. Mit der Apotheken-Umschau als Gutenachtlektüre lässt sich nicht gut schlafen. In den regelmässigen Gesundheitsprogrammen des Fernsehens erscheinen nur Experten mit Professorentitel – ob diese noch wissen, was sich draussen im Volke rührt?

Auch hier täuschen sich die akademischen Erbsenzähler, die mit ihren Detektoren durchs Land ziehen und Risikofaktoren eines gefährlichen Lebens registrieren: Die Menschen wollen keineswegs um jeden Preis zwei bis drei Jahre länger leben, wenn sie dafür jeden Tag Körnerbrot essen sollen und höchstens ein halbes Glas Wein trinken dürfen.

Weniger Zeit für die Gesunden, mehr Zeit für die Kranken

Das deutsche Gesundheitswesen funktioniert am besten für die gesunden Kranken. Die gesund genug sind, um viele Stunden im Wartezimmer sitzen zu können. Die gesund genug sind, sich auf die Rundreise zu allen Fachärzten zu machen. Die so gesund sind, dass sie nur eine klar definierte Krankheit haben, oder deren Krankheiten nichts miteinander zu tun haben: Der Hautarzt kümmert sich um die Schuppenflechte, der Kardiologe um die Angina Pectoris. Um die mit komplexen chronischen Leiden oder die schon bettlägerig Erkrankten kümmert sich das Krankenhaus – für einige Tage oder Wochen.

Die Spezialisierung ist bereits so weit vorangetrieben, dass der herzkranke Diabetiker in zwei Schwerpunktpraxen betreut wird, obwohl der Hausarzt die Koordination besser übernehmen könnte. Auf Kongressen wird zwar am Sonntag beschrieben, wie wichtig die koordinierte Betreuung ist, der Alltag und das bequeme Sortieren der Patienten nach Diagnosen lässt dies am Montag wieder vergessen.

Die meisten Ressourcen des Gesundheitswesens werden im letzten Lebensjahr eines jeden Menschen verbraucht. Die Initiativen für eine bessere Betreuung von sterbenskranken Menschen gingen meist von onkologischen Schwerpunktpraxen oder anderen Zentren aus: mit optimaler Betreuung für einige wenige. Aber für die Fahrt ins letzte Gehöft eignet sich oft der Mercedes nicht. Auch wenn es anstrengender, komplexer und langwieriger ist: Ohne die Schulung und aktive Mitarbeit von Hausärzten und Hauskrankenpfleger wird sich keine flächendeckende Betreuung von sterbenskranken Menschen einrichten lassen.

Ein Vorschlag für die Umsetzung des NEIN-Prinzips lautet: Im Zuge der Gesundheitsreform werden die Menschen motiviert, sich in Hausarztmodelle einzuschreiben – die Erfahrungen aus europäischen Staaten zeigen die Vorteile:

  •  Jeder Mensch hat im Krankheitsfall einen Hausarzt, auch wenn er ihn jahrelang nicht aufsucht, solang er gesund ist.
  • Jeder Hausarzt kann seine Arbeitsbelastung beeinflussen. 1500 bis 2500 Patienten in seiner Kartei kann ein Hausarzt bewältigen – eine stärkere Arbeitsbelastung schädigt die Qualität.
  • Auch der gesunde Mensch in der Hausarztkartei trägt automatisch zu seinem Einkommen bei: Das gibt dem Arzt weniger Anreize, gesunde Menschen jedes Quartal zu einem Besuch in seiner Praxis zu motivieren.
  • Jeder Hausarzt kann sich einen Überblick verschaffen über seine Patienten – und kann seine Praxis so organisieren, dass die schwer kranken Menschen mehr Zeit und Aufmerksamkeit bekommen als die weniger Kranken.

Nicht alles, was krank ist, gehört ins Gesundheitswesen. Lange ohne Arbeit zu sein, schlecht ausgebildet zu sein macht krank. Materielles, soziales Elend und Krankheit waren schon immer Geschwister. In Deutschland leben Reiche bis zu sieben Jahre länger als Arme. In manchen nordamerikanischen Städten ist diese Spanne mehr als doppelt so gross: 15 Jahre werden dem Reichen zusätzlich geschenkt oder dem Armen noch weggenommen. Eine solche Verlängerung der Lebenszeit lässt sich mit medizinischen Massnahmen nur in ganz wenigen Ausnahmefällen erreichen.

Immer das nächste effektive Interventionsniveau zu suchen entspricht einer alltäglichen Strategie: Wenn ich die Glühbirne selbst wechseln kann, rufe ich nicht den Elektriker. Wenn der Bäcker nebenan ist, bestell ich kein Taxi, auch wenn es regnet. Wenn ich mir eine Kreuzfahrt nicht leisten kann, erhole ich mich auf einem Paddelboot. Warum soll das nicht gelten, wenn ich krank bin?

Der Autor Harald Kamps ist Facharzt für Allgemeinmedizin in Berlin. Er hat lange in Norwegen gearbeitet. Seit 2002 praktiziert er wieder in Deutschland.

©  DIE ZEIT, 15.02.2007 Nr. 08

 

McWhinney: Ein kanadischer Professor für Allgemeinmedizin zeigt anschaulich und praxisnah, worin sich Hausärzte und Hausärztinnen grundsätzlich von ihren spezialisierten Kollegen unterscheiden (McWhinney. European Journal of General Practice 2000; 6 (December):135-9).

Für Ärzt*innen: Kann ich noch besser werden?

In einer Review im «American Journal of Medicine» gibt J.P. Higgins zehn Ratschläge, wie wir eine Ärzt*in ihr Tun noch verbessern kann. Er kommentiert dazu Zitate, die er selbst zu beherzigen versucht.

  • Für den Umgang mit Rückschlägen und Enttäuschungen empfiehlt er, an Paulo Coelho zu denken: «You drown not by falling into the river, but by staying submerged in it.» Du ertrinkst nicht, wenn du in den Fluss fällst, sondern wenn du in ihm untertauchst.
  • «Listen to your patient; he is telling you the diagnosis» (Sir William Osler) schmückt er mit der Geschichte seines Patienten, bei dem im Eventrekorder nur jeweils zwischen Mitternacht und 2 Uhr morgens Tachykardieepisoden aufgezeichnet wurden. Intensives Nachfragen enthüllte schliesslich eine geheime sexuelle Affaire, die er nur zu Nachtzeiten traf.
  • «People will forget what you said, people will forget what you did, but they will never forget how you made them feel» (Maya Angelou) leitet einen kleinen Exkurs über ärztliche Empathie ein, die wir erlernen könnten, aber nur ungenügend anwenden.
  • Ärztliches Tun ist geprägt von unerwarteter Konfrontation mit Krankheit und Tod, Verzweiflung und Enttäuschung. Unsere Resilienz befähigt uns, dies zu bewältigen: «It’s not the strongest of a species that survive, nor the most intelligent, but the ones most resilient and responsive to change.» (Charles Darwin)
  • Und wenn wir ermüdet in der Routine uns fragen, ob wir noch genügen, hilft J. Rockefeller: «The secret of success is to do the common things uncommonly well.» Das Geheimnis des Erfolgs besteht darin, die gewöhnlichen Dinge ungewöhnlich gut zu machen.
  • Bleib gesund: „Intelligence and skill can only function at the peak of their capacity when the body is healthy and strong.” —John F. Kennedy.
  • Behandle den ganzen Patienten: “A good physician treats the disease. The great physician treats the patient who has the disease.”—Sir William Osler
  • Achte auf die Details: “It’s attention to detail that makes the difference between average and stunning.”—Francis Atterbury.
  • Sei ein Detektiv wie Sherlock: “When you have eliminated the impossible, whatever remains, however improbable, must be the truth.”— Arthur Conan Doyle, The Case-Book of Sherlock Holmes
  • Zum Abschluss noch dies: «Your work is going to fill a large part of your life, and the only way to be truly satisfied is to do what you believe is great work. And the only way to do great work is to love what you do. If you haven’t found it yet, keep looking, don’t settle.» (Steve Jobs)

Hausarztwerbung aus dem Land der Liebe und aus Zürich
und noch mehr:
http://vimeo.com/ghornuti/trailer-am-puls-der-hausaerzte-stephane-franziska
http://vimeo.com/ghornuti/trailer-am-puls-der-hausaerzte-gabi-bruno
http://vimeo.com/ghornuti/trailer-am-puls-der-hausaerzte-paul-sebastien

Welches Menschenbild hat mein Arzt?
Neigt meine Ärzt*in zu schnellem, unkritischem Denken?

Veröffentlicht am 30. Mai 2017 von Dr. med. Thomas Walser
Letzte Aktualisierung:
24. April 2023