Hausarztmedizin

Die Hausarztmedizin löst 90% aller medizinischen Probleme

und dies mit einfachen (und meist preiswerten) Mitteln >>> siehe einen Einblick dazu auf dieser Website!

Eine sozialmedizinische Faustregel lautet so: Von 1000 medizinischen Problemen können 900 von den Betroffenen gelöst werden. Von den verbliebenen 100 Problemen, die einen Menschen ins Gesundheitswesen führen, können 90 bei der Allgemeinmediziner*in geklärt werden. Von den verbliebenen zehn müssen neun zur Fachärzt*in, und eine Patient*in muss ins Krankenhaus.

Hausarztmedizin ist aber noch viel mehr:

Sie fördert Gesundheit und Wohlbefinden mit einer salutogenetischen Vorgehensweise. Sie fördert das Kohärenzgefühl der Patient*in indem sie seine Symptome und Krankheiten für ihn verständlich macht, auch sinnhaft und vor allem bewältigt bar. Sie fördert seine Ressourcen und seine Lebensqualität.

Hausarztmedizin arbeitet auf dem Prinzip des »Nächsten Effektiven Interventionsniveau« (NEIN). Daran ist nur der Name kompliziert. Es bedeutet: nicht mit dem Mercedes fahren, wenn das Ziel um die Ecke auch zu Fuss zu erreichen ist. Noch konkreter: Nichts der Ärzt*in überlassen, was jede Oma besser weiss! Nichts der Ärzt*in überlassen, was die Gemeindekrankenschwester besser regelt. Nichts der Fachärzt*in überlassen, was die Hausärzt*in besser überblickt. Nichts dem Krankenhaus überlassen, was die Fachärzt*in um die Ecke auch kann.

In Schlagworten könnte dieses „NEIN-Programm“ so lauten:

  • Mehr Mut, die eigene Gesundheit in die Hand zu nehmen – und:
    ein öffentliches Impfprogramm gegen medizinische Propaganda.
  • Mehr Vertrauen in das primärmedizinische Team aus Hausärzt*innen, Krankenschwestern in der Hauskrankenpflege und den Pflegeheimen, Physiotherapeut*innen und Apotheker*innen.
  • Mehr Geld für die Kranken, weniger für die Gesunden.
  • Mehr Bescheidenheit bei den Ärzt*innen.

Hausarztmedizin ist kostengünstiger!

Eine Flut von Daten belegt, dass Gesundheitssysteme mit einer starken Hausarztmedizin deutlich kostengünstiger sind. Bei tendenziell sogar besserer Lebensqualität – nicht nur insgesamt betrachtet, sondern auch auf häufige Erkrankungen fokussiert. Studien zeigen zum Beispiel, dass Diabetiker*innen, die von der Hausärzt*in betreut werden, länger leben. Dass es nach einem Herzinfarkt wichtig ist, neben der Kardiolog*in auch eine Hausärzt*in zu haben. Oder dass von einer Hausärzt*in betreute Kreuzschmerzpatien*in genauso schnell genesen, aber weit weniger Untersuchungen erfahren dürfen (müssen).

Beziehungsmedizin

Hausarztmedizin ist auch – wie übrigens Psychotherapie und schlussendlich wohl jede erfolgreiche Therapie – Hausarztmedizin ist eine Beziehungsmedizin. Die Beziehung zwischen Ärzt*in/Therapeut*in und Patient*in/Klient*in ist das Medium der Heilung. Und die Voraussetzung für eine solche therapeutische Beziehung sind auf der Seite der Ärzt*in: uneingeschränkte Aufmerksamkeit, bedingungsloses Akzeptieren, echtes Engagement, empathisches Verständnis (siehe Check-Up Ihrer Ärzt*in).
Und auf der Seite der Patient*in: die Bereitschaft, Verantwortung (für die Gestaltung ihres Lebens) zu übernehmen. „Verantwortlich sein“ bedeutet „Urheber*in sein“, das heisst, jeder von uns ist die Urheber*in ihres eigenen Lebensplans. Wir haben die Freiheit, alles ausser unfrei zu sein: Wir sind, wie Sartre sagt, zur Freiheit verdammt.

Existentielle, letzte Fragen

Die Hausärzt*in ist durch ihre Beziehung „durchs ganze Leben“ der Patient*in in der Lage die „letzten, existentiellen Fragen“ anzusprechen. Ich glaube, dass das primäre Thema bei psychischen Krankheiten immer solche Existenzängste sind (wie die Angst vor der Freiheit, unser Leben nach unserem Willen, eigenverantwortlich zu gestalten) – und nicht, wie oft behauptet wird, unterdrückte Triebe oder unbewältigte Tragödien im Leben der Einzelnen. Auch bei (chronischen) somatischen Krankheiten spielen sie natürlich eine wesentliche Rolle.
Es sind dies vier existentielle Grundtatsachen mit denen die Ärzt*in/Therapeut*in und die Patient*in umgehen muss:

  • Neben der oben beschriebenen Freiheit, das Leben nach unserem eigenen Willen, also auch eigenverantwortlich zu gestalten,
  • Die Unausweichlichkeit des Todes für jede von uns und für die, die wir lieben;
  • Unsere letztendliche Einsamkeit und Isolation (will heissen: jede/r lebt in seiner eigenen Welt und hat seine eigene Sprache – und ganz bis zum Letzten werden wir uns – trotz symbiotischer Wünsche – nie verstehen!) und schliesslich
  • Das Fehlen eines erkennbaren Lebenssinns.

Prozess

Ein wirklich nützliches Instrument der Medizin/Therapie ist die Konzentration auf den „Prozess„. Wobei Prozess im Gegensatz zu Inhalt zu verstehen ist. In einer Unterhaltung besteht der Inhalt aus den real benutzen Worten, den real diskutierten Themen; der Prozess hingegen bezieht sich auf die Art und Weise, wie der Inhalt ausgedrückt wird, wie wirklich gelebt wird. Die Hausarztmedizin konzentriert sich auch auf diesen Prozess, auf diese Begleitung (die meist Jahre und Jahrzehnte dauert) und die einen umfassenden Blick auf alle Lebensumstände der Patient*in zulässt, ja bedingt (Hausbesuche!) und diese obigen Existenzängste berührt. Es ist eine Art Muster oder Raster, welches jedes Individuum mit seiner Umgebung bildet und immer mit unscharfem Rand daher kommt .
Damit sind wir bei den hausärztlichen Zwischentönen.

Der dritte Bereich – die Zwischentöne

Ein Hausarzt/Hausärztin muss vor allem viel Neugier haben und mit Unsicherheit leben können. Im 2009 fand der europäische WONCA-Kongress der Hausärzt*innen in Basel statt – mit dem vielsagenden Thema „The Fascination of Complexity – Dealing with Individuals in a Field of Uncertainty“!
Sie muss mit der Fuzzylogic vertraut sein, mit „Sowohl-als-auch“ (englisch „as-well-as“): Sie kennt zwischen den Begriffen „gesund“ und „krank“ oder zwischen „wahr“ und „falsch“ einen dritten Bereich, eine grosse Grauzone (sehr viel mehr als „fifty shades of grey“! …und natürlich mit allen Farben!) – einen grossen Zwischenbereich des Menschen und der Medizin, wo Grenzwerte, Diagnosen und sogenannte „Guidelines“ recht „fuzzy„, also unscharf daherkommen. Diagnosen sind in der Hausarztpraxis häufiger nicht zu stellen und Grenzwerte sind individuell variierend (siehe hier die Diskussion über den BMI oder über den hohen Blutdruck!). Leitlinien werden meist von Spezialiste*innen aufgestellt und finden in der Hausarztmedizin-Grauzone nur unscharfe Verwendung (Siehe dazu auch der spannende Artikel über die Guidelines hier:  Guidelines: the new catechism of modern medicine? Levi M.; Netherl J Med 2012 (August); 70: 253-4: guidelines.pdf)

Eine Hausärzt*in kann keine Schwarz-Weiss-Maler*in sein. Auch hier hebt sie sich stark von Spezialist*innen in der Medizin ab, die viel Sicherheit benötigen, meist mehr Ängste vor Unsicherheit und Unschärfe haben und dadurch eine eingeschränkte und abgegrenzte Sicht auf den Menschen erhalten.

Umgehen mit dem „Schillernden“

Wer «reif» ist, kann Realitäten aushalten, die sich mit den Begriffen seiner Erfahrungswelt nicht fassen lassen. Die Klimakrise  ist zum Beispiel so ein «Hybrid» (nach dem Wissenschaftsphilosophen Bruno Latour): etwas, was sich mit Gegensätzen nicht fassen lässt. Die Klimakrise ist nicht Natur oder Kultur, sie ist beides zugleich. Wer sich an eindeutigen Kategorien festhalten will, kommt mit solchen Phänomenen nicht klar. Klimaleugnerinnen als Beispiel gleichen Homophoben und Rassisten: Sie hassen das Schillernde, das Mehrdeutige, das Sowohl-als-Auch, weil sie es nicht fassen können. Die Realität in ihrer Mehrdeutigkeit ist für sie eine Zumutung. Klimaleugner, sagt der Philosoph und Literaturwissenschaftler Timothy Morton, leugneten die Klimakrise, weil sie nicht in ihr Weltbild passe.
Schülerinnen müssen lernen, das auszuhalten.
Was lehrt besser, Mehrdeutigkeit auszuhalten, als Poesie – jede Kunst? Kunst ist nie eindeutig.

Man könnte auch sagen, dass das Kerngeschäft der Hausärzt*in das Denken ist, das schillernde, das salutogenetische (auf die Ressourcen ausgerichtete), aber auch das pathogenetische, das existentielle, aber auch das alltägliche und das prozessorientierte.

Literatur dazu für angehende Hausärzt*innen und ihre Patient*innen (Achtung: Kann Ihr Leben verändern!):
Irvin D. Yalom „Existentielle Psychotherapie“ (wunderbares Lehrbuch über „die letzten Fragen“: Freiheit, Tod, Lebenssinn, Isolation) und „Die Liebe und ihr Henker“ (zehn Patientengeschichten) – auch in Kurzform im „Panamahut“.
Irvin D. Yalom ist wunderbar lesbar und es wirkt nachhaltig! Es gibt auch einen sehr schönen Film über ihn (2014):  „Yalom`s Cure – eine Anleitung zum Glücklichsein“ von Sabine Gisiger!

Hier noch die WONCA-Definition der Hausarztmedizin:
www.dr-walser.ch/hausarztmedizin.pdf

Warum eine Hausärzt*in, die Sie schon lange kennt und unter vielem anderen, „Notfälle“ gut einordnen kann, Gold wert ist, zeigt folgende wahre Geschichte:
Sie hörte nicht mehr und ihm war schwindlig – deshalb suchte eine 89-Jährige das Spital auf. Die Ärzt*innen bemerkten den mit 170/100 (mm Quecksilber) erhöhten Blutdruck und einen hängenden Mundwinkel bei der Patient*in. Deren Beteuerung, ihr Mund sei schon immer leicht schief gewesen, half nichts: Mit Verdacht auf Schlaganfall wurde sie notfallmässig in den Computertomographen geschoben.
Der Befund: Ohrschmalz-Pfropfen in beiden Gehörgängen. (Therapeutische Umschau, 65, S.707)

Hausärzte schlagen Spezialärzte

In den USA wurde nach Korrekturen für Unterschiede in den sozioökonomischen und gesundheitsrelevanten Faktoren gefunden: Eine Zunahme der Hausärztezahl um 1 auf 10 000 Einwohner ist mit einer verlängerten, lokalen Lebenserwartung von gut 51 Tagen assoziiert. Die gleiche Zunahme an Spezialärzten verlängert sie um nur 19 Tage. (JAMA Intern Med 2019, doi:10.1001/jamainternmed.2018.7624)

…und Dr. Google gegen den Hausarzt…

„das sage ich“ sind zum Beispiel Sie:


Grafik aus der Süddeutschen Zeitung (danke!)

Bedenken Sie immer, dass „Wissen“ durch Informationsaneignung in der Medizin meist in die Irre – und erst „Erkenntnis“ zum Ziel führt. Die Suche zur Erkenntnis geht nach innen: „Wer bin ich?“. Dies ist viel essentieller und ganzheitlicher als „Was habe ich (für eine Krankheit)?“. Deshalb ist auch Wikipedia und Google bei medizinischen Fragen häufig sogar schädlich, da die Erkenntnis keine Sache ist, die sich übertragen lässt. Man muss in sie hineinwachsen, sie erleben. Es ist wie mit der Liebe: Solange Sie sie nicht selbst entdecken und leben, werden Sie auch nie wissen, worum es sich handelt (auch nicht aus tausend Liebesromanen).

Deshalb sagt die wunderbar klar denkende und mutige Wissenschaftlerin Mai Thi Nguyen-Kim auch: „Je mehr man googeln tut, desto mehr muss man wissen!„.

Jeder Schritt ins Gesundheitswesen kann auch gefährlich sein

(DIE ZEIT, 15.02.2007 Nr. 08)

Durchschnittlich geht jeder Norweger dreimal im Jahr zum Arzt, mehr als 16-mal jeder Deutsche. Dabei werden die Bundesbürger aber nicht gesünder. Der Norweger entfernt sich eben die Zecke selbst, weil er nicht durch wohlmeinende Ratgeber verunsichert wird und hinter jedem Tier eine tödliche Krankheit befürchtet. Er vertraut darauf, dass der plötzliche Hörverlust nach ein paar Tagen Pause wieder besser ist, und wenn nicht: Eine unmittelbare Behandlung hätte wahrscheinlich auch nicht geholfen. Für die Krankheit »Hörsturz« gibt es im Norwegischen gar kein Wort – also auch keine Besorgnis. Gestresste Politiker gönnen sich einfach ein freies Wochenende.

Jeder Schritt ins Gesundheitswesen kann heilsam sein, aber auch gefährlich. Nach der Bestimmung des Cholesterinwertes ist jeder Bissen in einen fettreichen Käse ein Genuss mit Risiken. Nach dem ersten PSA-Wert bei der Prostatakrebs-Vorsorge startet möglicherweise eine lange Odyssee mit regelmässigen Kontrollen, die mit einer Operation enden, die nicht unbedingt das Leben verlängern, dafür aber weniger lustreich gestalten kann. Jedes unnötige Röntgenbild – und auch hier sind die Deutschen Weltmeister – erklärt möglicherweise den Rückenschmerz als Bandscheibenvorfall, auch wenn dieser bisher kaum Beschwerden machte und in ein paar Monaten nicht mehr nachweisbar gewesen wäre.

Früherkennungsuntersuchungen können den Krebstod verhindern, bei einigen. Aber warum verschweigen die meisten Broschüren zur Mammografie, dass auch Diagnosen gestellt werden, ohne dass die Brust erkrankt ist? Oder warum verschweigen die Frauenärzte, dass Zellveränderungen am Muttermundhals gefunden werden, die nach einem halben Jahr von selbst wieder verschwunden wären? Solche werden bei jährlichen Untersuchungen häufig entdeckt und behandelt: unnötig. Alle drei Jahre werden norwegische Frauen zur Cervixzytologie, zum Abstrich zur Krebsvorsorge, eingeladen – und wenn die Befunde mehr als zweimal negativ waren, nur noch alle fünf Jahre. Finnische Frauen haben daher nur acht solcher Untersuchungen im Leben und im europäischen Vergleich die besten Ergebnisse. Deutsche Frauen leiden im europäischen Vergleich trotz (und zum Teil auch wegen) intensiver Untersuchungen häufiger an Gebärmutterhalskrebs und sterben häufiger daran.

In Norwegen verschreiben die Schulkrankenschwester und der Hausarzt die Antibabypille, auf einem Rezept, das zwei Jahre gültig ist. Deutsche Mädchen müssen sich jedes Quartal zum Arzt begeben, damit sie sich gleich daran gewöhnen, dass nur der regelmässige Gang zum Arzt die eigene Gesundheit sichert. Sie bezahlen für einen Arztbesuch ohne medizinische Berechtigung.

Die norwegische Medizin beschreibt den Körper auch nicht kreativer als die deutsche, aber es findet eine lebhaftere Debatte über eine moderne Medizin statt. Eine Gruppe norwegischer Allgemeinärzte organisierte vor einigen Jahren internationalen Widerstand gegen die Empfehlungen von Kardiologen, rigorose Blutdruckgrenzen zu definieren, die fast alle Menschen über siebzig Jahre zu Patienten gemacht hätten. Unterstützt durch ein kluges Marketing der Pharmaindustrie, sollten immer mehr Menschen immer teurere Blutdruckmedikamente schlucken – »zur Behandlung der Blutdruckkrankheit«. Dabei ist längst bekannt, dass diese Behandlung nur ein Lotterielos anbietet. Wer der eine unter den mindestens anderen fünfzig ist, der im nächsten Jahr dank der Behandlung vom Schlaganfall verschont wird, bleibt leider ungewiss. Die norwegischen Allgemeinärzte argumentierten bereits vor vielen Jahren für die Berechnung eines Gesamtrisikos und für die Einbeziehung des Patienten in die Entscheidung, ob das Erkrankungsrisiko nicht genauso gut gesenkt werden kann, wenn er künftig keine Zigaretten mehr kauft.

Wann begreifen die Ärzte, dass sie mit ihren Kassandrarufen mehr Angst als Vertrauen schaffen? Ärzte sollten sehr gute Gründe haben, bevor sie aus einem Menschen eine Risikoperson machen. Ein Arzt, der es unterlässt, ein Röntgenbild zu veranlassen, auf dem der Lungenkrebs noch rechtzeitig hätte entdeckt werden können, wird schnell an den Pranger gestellt. Doch wann wird der erste Arzt angeklagt, der zu allen Zeiten, »um auch nichts zu übersehen«, Befunde seiner Patienten sammelt, die diesen Krankheiten verschaffen, um die sie nicht gebeten haben: einen Prostatakrebs, der womöglich auch ohne Therapie sein Leben nicht verkürzt; einen Bandscheibenvorfall, der ab sofort die Erklärung für alle Rückenschmerzen ist?

Im deutschen Gesundheitswesen fehlt die fachliche Instanz, die gesunde Menschen vor den gefährlichen Risiken und Nebenwirkungen des Gesundheitswesens bewahrt und den kranken Menschen den einfachsten Weg zur Besserung zeigt. Der entsprechend ausgebildete Hausarzt oder motivierte Apotheker könnte diese Funktion übernehmen. Die meisten Diagnosen, auch die beruhigenden, lassen sich durch einen persönlichen Dialog zwischen Arzt und Patient und eventuell eine symptomorientierte Untersuchung abklären.

Stattdessen sind die Menschen dieses Landes einer ständigen Propaganda ausgesetzt, die an allen Ecken potenzielle Risiken ausmacht und meist auch die medizinische Lösung parat hat. Mit der Apotheken-Umschau als Gutenachtlektüre lässt sich nicht gut schlafen. In den regelmässigen Gesundheitsprogrammen des Fernsehens erscheinen nur Experten mit Professorentitel – ob diese noch wissen, was sich draussen im Volke rührt?

Auch hier täuschen sich die akademischen Erbsenzähler, die mit ihren Detektoren durchs Land ziehen und Risikofaktoren eines gefährlichen Lebens registrieren: Die Menschen wollen keineswegs um jeden Preis zwei bis drei Jahre länger leben, wenn sie dafür jeden Tag Körnerbrot essen sollen und höchstens ein halbes Glas Wein trinken dürfen.

Weniger Zeit für die Gesunden, mehr Zeit für die Kranken

Das deutsche Gesundheitswesen funktioniert am besten für die gesunden Kranken. Die gesund genug sind, um viele Stunden im Wartezimmer sitzen zu können. Die gesund genug sind, sich auf die Rundreise zu allen Fachärzten zu machen. Die so gesund sind, dass sie nur eine klar definierte Krankheit haben, oder deren Krankheiten nichts miteinander zu tun haben: Der Hautarzt kümmert sich um die Schuppenflechte, der Kardiologe um die Angina Pectoris. Um die mit komplexen chronischen Leiden oder die schon bettlägerig Erkrankten kümmert sich das Krankenhaus – für einige Tage oder Wochen.

Die Spezialisierung ist bereits so weit vorangetrieben, dass der herzkranke Diabetiker in zwei Schwerpunktpraxen betreut wird, obwohl der Hausarzt die Koordination besser übernehmen könnte. Auf Kongressen wird zwar am Sonntag beschrieben, wie wichtig die koordinierte Betreuung ist, der Alltag und das bequeme Sortieren der Patienten nach Diagnosen lässt dies am Montag wieder vergessen.

Die meisten Ressourcen des Gesundheitswesens werden im letzten Lebensjahr eines jeden Menschen verbraucht. Die Initiativen für eine bessere Betreuung von sterbenskranken Menschen gingen meist von onkologischen Schwerpunktpraxen oder anderen Zentren aus: mit optimaler Betreuung für einige wenige. Aber für die Fahrt ins letzte Gehöft eignet sich oft der Mercedes nicht. Auch wenn es anstrengender, komplexer und langwieriger ist: Ohne die Schulung und aktive Mitarbeit von Hausärzten und Hauskrankenpfleger wird sich keine flächendeckende Betreuung von sterbenskranken Menschen einrichten lassen.

Ein Vorschlag für die Umsetzung des NEIN-Prinzips lautet: Im Zuge der Gesundheitsreform werden die Menschen motiviert, sich in Hausarztmodelle einzuschreiben – die Erfahrungen aus europäischen Staaten zeigen die Vorteile:

  •  Jeder Mensch hat im Krankheitsfall einen Hausarzt, auch wenn er ihn jahrelang nicht aufsucht, solang er gesund ist.
  • Jeder Hausarzt kann seine Arbeitsbelastung beeinflussen. 1500 bis 2500 Patienten in seiner Kartei kann ein Hausarzt bewältigen – eine stärkere Arbeitsbelastung schädigt die Qualität.
  • Auch der gesunde Mensch in der Hausarztkartei trägt automatisch zu seinem Einkommen bei: Das gibt dem Arzt weniger Anreize, gesunde Menschen jedes Quartal zu einem Besuch in seiner Praxis zu motivieren.
  • Jeder Hausarzt kann sich einen Überblick verschaffen über seine Patienten – und kann seine Praxis so organisieren, dass die schwer kranken Menschen mehr Zeit und Aufmerksamkeit bekommen als die weniger Kranken.

Nicht alles, was krank ist, gehört ins Gesundheitswesen. Lange ohne Arbeit zu sein, schlecht ausgebildet zu sein macht krank. Materielles, soziales Elend und Krankheit waren schon immer Geschwister. In Deutschland leben Reiche bis zu sieben Jahre länger als Arme. In manchen nordamerikanischen Städten ist diese Spanne mehr als doppelt so gross: 15 Jahre werden dem Reichen zusätzlich geschenkt oder dem Armen noch weggenommen. Eine solche Verlängerung der Lebenszeit lässt sich mit medizinischen Massnahmen nur in ganz wenigen Ausnahmefällen erreichen.

Immer das nächste effektive Interventionsniveau zu suchen entspricht einer alltäglichen Strategie: Wenn ich die Glühbirne selbst wechseln kann, rufe ich nicht den Elektriker. Wenn der Bäcker nebenan ist, bestell ich kein Taxi, auch wenn es regnet. Wenn ich mir eine Kreuzfahrt nicht leisten kann, erhole ich mich auf einem Paddelboot. Warum soll das nicht gelten, wenn ich krank bin?

Der Autor Harald Kamps ist Facharzt für Allgemeinmedizin in Berlin. Er hat lange in Norwegen gearbeitet. Seit 2002 praktiziert er wieder in Deutschland.

©  DIE ZEIT, 15.02.2007 Nr. 08

 

McWhinney: Ein kanadischer Professor für Allgemeinmedizin zeigt anschaulich und praxisnah, worin sich Hausärzte und Hausärztinnen grundsätzlich von ihren spezialisierten Kollegen unterscheiden (McWhinney. European Journal of General Practice 2000; 6 (December):135-9).

Für Ärzt*innen: Kann ich noch besser werden?

In einer Review im «American Journal of Medicine» gibt J.P. Higgins zehn Ratschläge, wie wir eine Ärzt*in ihr Tun noch verbessern kann. Er kommentiert dazu Zitate, die er selbst zu beherzigen versucht.

  • Für den Umgang mit Rückschlägen und Enttäuschungen empfiehlt er, an Paulo Coelho zu denken: «You drown not by falling into the river, but by staying submerged in it.» Du ertrinkst nicht, wenn du in den Fluss fällst, sondern wenn du in ihm untertauchst.
  • «Listen to your patient; he is telling you the diagnosis» (Sir William Osler) schmückt er mit der Geschichte seines Patienten, bei dem im Eventrekorder nur jeweils zwischen Mitternacht und 2 Uhr morgens Tachykardieepisoden aufgezeichnet wurden. Intensives Nachfragen enthüllte schliesslich eine geheime sexuelle Affaire, die er nur zu Nachtzeiten traf.
  • «People will forget what you said, people will forget what you did, but they will never forget how you made them feel» (Maya Angelou) leitet einen kleinen Exkurs über ärztliche Empathie ein, die wir erlernen könnten, aber nur ungenügend anwenden.
  • Ärztliches Tun ist geprägt von unerwarteter Konfrontation mit Krankheit und Tod, Verzweiflung und Enttäuschung. Unsere Resilienz befähigt uns, dies zu bewältigen: «It’s not the strongest of a species that survive, nor the most intelligent, but the ones most resilient and responsive to change.» (Charles Darwin)
  • Und wenn wir ermüdet in der Routine uns fragen, ob wir noch genügen, hilft J. Rockefeller: «The secret of success is to do the common things uncommonly well.» Das Geheimnis des Erfolgs besteht darin, die gewöhnlichen Dinge ungewöhnlich gut zu machen.
  • Bleib gesund: „Intelligence and skill can only function at the peak of their capacity when the body is healthy and strong.” —John F. Kennedy.
  • Behandle den ganzen Patienten: “A good physician treats the disease. The great physician treats the patient who has the disease.”—Sir William Osler
  • Achte auf die Details: “It’s attention to detail that makes the difference between average and stunning.”—Francis Atterbury.
  • Sei ein Detektiv wie Sherlock: “When you have eliminated the impossible, whatever remains, however improbable, must be the truth.”— Arthur Conan Doyle, The Case-Book of Sherlock Holmes
  • Zum Abschluss noch dies: «Your work is going to fill a large part of your life, and the only way to be truly satisfied is to do what you believe is great work. And the only way to do great work is to love what you do. If you haven’t found it yet, keep looking, don’t settle.» (Steve Jobs)

Hausarztwerbung aus dem Land der Liebe und aus Zürich
und noch mehr:
http://vimeo.com/ghornuti/trailer-am-puls-der-hausaerzte-stephane-franziska
http://vimeo.com/ghornuti/trailer-am-puls-der-hausaerzte-gabi-bruno
http://vimeo.com/ghornuti/trailer-am-puls-der-hausaerzte-paul-sebastien

Welches Menschenbild hat mein Arzt?
Neigt meine Ärzt*in zu schnellem, unkritischem Denken?

Veröffentlicht am 30. Mai 2017 von Dr. med. Thomas Walser
Letzte Aktualisierung:
24. April 2023