Lebendigsein

„Man sagt, dass wir einen Sinn des Lebens suchen… Ich glaube, was wir wirklich suchen, das ist die Erfahrung des Lebendigseins, so dass unsere physische Existenz mit unserem innersten Sein und unserer innersten Wirklichkeit zusammenklingt und wir tatsächlich fühlen, was es heisst, lebendig zu sein.“ Joseph Campell

Lebendigkeit im Stoizismus

Die Stoiker verstehen die Natur als lebendig. Ein mächtiges Prinzip durchdringt sie, das viele Namen trägt: Feuer, Lebenshauch, schliesslich „Gott“.

Wichtiger als die Göttlichkeit der Welt ist den Stoikern aber die Erkenntnis, dass der Mensch besonders vom Göttlichen geprägt ist. Diese innere Göttlichkeit ist seine Natur. Die „innere Stimme“ des Menschen trägt etwas Göttliches in sich.

Die Stoiker entwickelten das Konzept der inneren Zitadelle. Diese Festung schützt die Seele. Physisch verwundbar und dem Schicksal ausgeliefert, bleibt unser innerster Bereich uneinnehmbar. Marc Aurel sagte: „Dinge können die Seele nicht berühren. “ Doch die Geschichte zeigt, dass man Festungen von innen öffnen kann. Angst, Gier oder Geiz lassen Feinde ein. Das geschieht, wenn wir die Nerven verlieren und der Angst zu viel Raum geben. Meister Eckhart sagte: „Es gibt einen Ort in der Seele, wo man nie verwundet wurde. “

Ungeachtet meiner Geschichte, der Intensität früher Traumata oder aktueller Dramen, ungeachtet aller Umstände, bleibt der Kern meines Wesens die heitere Gegenwart Buddhas oder Jesus, die lächelnd auf mich warten, bis ich von meiner Reise in den Wahnsinn zurückkehre und mich ergebe.
Damit ist der Weg zur Lebendigkeit frei geworden.

>>> Stoizismus für mehr Inneren Frieden und Lebendigkeit

Frei sein macht lebendig

Virginia Satir, eine US-amerikanische Psychotherapeutin und Mutter der Familientherapie, beschrieb fünf Aspekte der Freiheit des Menschen und erklärte, dass wer diese lebt, die grösste persönliche Macht in seinem Leben besitzt – und wahre Lebendigkeit spüren kann:

  • Die Freiheit, das zu sehen und zu hören, was wirklich da ist, statt was sein sollte, war oder sein wird.
  • Die Freiheit, das zu sagen, was ich fühle und denke, statt das Erwartete.
  • Die Freiheit, zu meinen Gefühlen zu stehen, statt etwas vorzutäuschen.
  • Die Freiheit, um das zu bitten, was ich brauche, statt auf Erlaubnis zu warten.
  • Die Freiheit, Risiken einzugehen, statt immer auf Nummer Sicher zu gehen.

Innerer Frieden und Lebendigkeit

Ich lebe nur wirklich, wenn ich Frieden finde. Mein Ego sieht das anders: „Du lebst nur, wenn du Aufregung spürst, Adrenalin fliesst, du eine grosse Flasche Wein öffnest…“. Für das Ego ist Frieden ein kurzer, leuchtender Moment. Sekunden, Stunden oder einen Tag später meldet sich das Ego, diese Wunschmaschine, mit dem nächsten Begehren.
Frieden entsteht aus Erwartungslosigkeit. Ohne Erwartungen befreie ich mich vom übermässigen Tun und finde Ruhe im Sein. Wenn ich wenig plane und geschehen lasse, was kommt, gewinne ich Freiheit. So kann ich mich ganz dem friedlichen Gefühl des Augenblicks hingeben.

Lebendigkeit und der Glanz des Lebens

Der „Glanz des Lebens“ verbindet sich eng mit lebendigen Momenten, die im Gedächtnis bleiben. Was sind das für Augenblicke? Als Kinder staunen wir ständig. Alles fasziniert uns, ob Seifenblase, Feuerschlucker oder Schnecke. Kinder begegnen allem mit Ehrfurcht. Diese Fähigkeit verlieren wir oft als Erwachsene, weil wir glauben, die Welt zu kennen. Doch genau hier liegt der springende Punkt: Ein tiefes Staunen entsteht erst, wenn wir vieles verstanden haben. Der Sternenhimmel beeindruckt mehr, wenn wir die Weite und das Alter des Universums begreifen. Gespräche werden intensiver, wenn wir einander verstehen und nuanciert kommunizieren. Wenn wir die Grausamkeit der Menschen erkennen, berührt uns ihre Grosszügigkeit umso mehr.

In den mittleren Jahren drängen Beruf, Familie und alternde Eltern oft die grossen Gefühle und intensiven Erlebnisse in den Hintergrund. Wo bleibt der Glanz, die durchgetanzten Nächte, die Intensität der Jugend? Vielleicht fehlt das, was man im Englischen „awe“ nennt: ein tiefes Staunen, eine existenzielle Ehrfurcht. Diese Momente lassen sich nicht erzwingen, doch gerade in hektischen Zeiten sollten wir sie wiederentdecken.

Solche Erfahrungen entstehen nicht auf Knopfdruck. Im Leben geht es oft um Unverfügbarkeit und das Geschehenlassen. Deshalb gefällt mir die Metapher der Wanderung für den Lebensweg. Beim Wandern haben wir nicht alles unter Kontrolle. Wir verirren uns, geraten auf Abwege und stehen im ständigen Austausch mit der Landschaft. Wir passen uns an, je nachdem, ob der Weg steil ist oder nicht. Unsere Umgebung beeinflusst uns, und sie kann sich verändern, während wir unterwegs sind. Auf einer solchen Wanderung brauchen wir keinen Ratgeber, sondern eine Karte, die die Umgebung erkundet.

Dieser Blog versucht, die Landschaften des Lebens zu kartografieren.

Wie komme ich wieder zu meinem „Lebendigsein“?

  • Graben Sie ihre ersten Fotos der Jugend aus. Sicher finden Sie solche, auf denen Sie übermütig und eigen-mächtig mit überschäumender Lebensfreude in die Welt hinaus rennen. Alles war möglich!
  • Jeden Tag etwas ganz Neues, Ver-rücktes tun!
  • Tanzen Sie vermehrt – wild.
  • Gehen Sie so oft barfuss wie möglich.
  • Lassen Sie sich massieren – und massieren Sie ihren Partner. Massieren Sie sich selber: ihre Füsse nach einem Fussbad – ihre Lippen – ihre Kopfhaut – mehr…
  • Singen Sie wieder mal für sich – oder mit anderen. Melodien, die nur in dir schlummern, finden und aus-singen.
  • Schwimmen Sie in Seen und Flüssen –
  • und spielen Sie mit Kindern.
  • Im Sommerregen über die Wiese rennen –
  • zusehen wie die Wolken vorbei ziehen –
  • Sonnenuntergänge bestaunen –
  • auf Berge steigen und lang in die Weite schauen –
  • das Glitzern im Wasser sehen –
  • Loswandern, ohne zu wissen wohin –
  • Ziellos durch die Stadt flanieren –
  • die Augen schliessen beim Rückwärtsgehen – die Unsicherheit geniessen – …

Wieder mal vor Freude und Lebendigsein zittern

Lebendigsein heisst aber nicht nur Lebens-Freude – es ist auch Lebens-Trauer, etc… sogenannte Stärken und Schwächen, tief und eigen-mächtig gelebte Gefühle, Konzepte und Glaubenssätze. Das was uns auch „mitten im Feuer“ im Innersten zusammenhält, wenn alles „Äussere“ wegfällt… Ein eigentliches Verliebtsein ins Leben.

Die Kunst des Liebens

„Was gibt ein Mensch dem anderen? Er gibt etwas von sich selbst, vom Kostbarsten, was er besitzt, er gibt etwas von seinem Leben. Das bedeutet nicht unbedingt, dass er sein Leben für den anderen opfert –sondern dass er ihm etwas von dem gibt, was in ihm lebendig ist; er gibt ihm etwas von seiner Freude, von seinem Interesse, von seinem Verständnis, von seinem Wissen, von seinem Humor, von seiner Traurigkeit –von allem, was in ihm lebendig ist.

Indem er dem anderen auf diese Weise etwas von seinem Leben abgibt, bereichert er ihn, steigert er beim anderen das Gefühl des Lebendigseins und verstärkt damit dieses Gefühl des Lebendigseins auch in sich selbst. Er gibt nicht, um selbst etwas zu empfangen; das Geben ist an und für sich eine erlesene Freude. Indem er gibt, kann er nicht umhin, im anderen etwas zum Leben zu erwecken, und dieses zum Leben Erweckte strahlt zurück auf ihn; wenn jemand wahrhaft gibt, wird er ganz von selbst etwas zurück empfangen. Zum Geben gehört, dass es auch den anderen zum Geber macht, und beide haben ihre Freude an dem, was sie zum Leben erweckt haben. Im Akt des Gebens wird etwas geboren, und die beiden beteiligten Menschen sind dankbar für das Leben, das für sie beide geboren wurde…“ (Erich Fromm, die Kunst des Liebens)

Hier ein wunderbarer Kurzfilm, der zeigt, was unserer Gesellschaft fehlt…
die Farbe! Die Lebendigkeit!

Quellen:
Barbara Bleisch, Mitte des Lebens. Eine Philosophie der besten Jahre, Verlag: Carl Hanser Verlag, München, 2024; ISBN: 978–3‑446–27968‑1
Virginia Satir, 5 menschliche Freiheiten

Foto von Rarindra Prakarsa

Letzte Aktualisierung durch Thomas Walser:
30. Januar 2025